Formel 1-Rückblick: "Heute bleiben alle am Leben"
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Ex-Weltmeister Jackie Stewart: F1-Rückblick

Interview mit Ex-Weltmeister Jackie Stewart Formel 1-Rückblick: "Heute bleiben alle am Leben"

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Der Ex-Weltmeister Jackie Stewart erinnert sich an seinen ersten WM-Titel 1969 vor 40 Jahren, als wäre es gestern passiert. Und er schlägt die Brücke zur Gegenwart. Ein Blick auf die Formel 1-Entwicklung in 40 Jahren.

Gemessen an Ihrem klaren Vorsprung war der Titelgewinn 1969 eine einfache Angelegenheit.
Stewart: Es ist nie einfach, zu gewinnen. Mein Team war 1969 außergewöhnlich gut. Ken Tyrrell war ein genialer Praktiker. Jean-Luc Lagardère, sein Partner von Matra, war vielleicht der beste Geschäftsmann, den es je im französischen Rennzirkus gab. Dynamisch, entscheidungsfreudig, sehr elegant. Eine personifizierte Erfolgsstory. Lagardère kam aus dem Flugzeuggeschäft und hatte vom Motorsport wenig Ahnung. Da traf er mit Tyrrell auf die ideale Ergänzung. Matra träumte von einem extrem fortschrittlichen Auto.

Und Ken Tyrrell hat es ihm ausgeredet?
Stewart: Exakt. Er wusste, wie Motorsport funktioniert. Denn um als Erster anzukommen, musst du zuerst ankommen. Ich stand zwischen den beiden, war quasi der Dolmetscher. Das Team operierte übrigens von einer Scheune in den Wäldern von Surrey aus.

Wie groß war das Team?
Stewart: Für die zwei Einsatzfahrzeuge und das Ersatzauto hatten wir sieben Mechaniker, Ken, seine Frau Nora, die zusammen mit meiner Frau Helen für die Zeitnahme und die Sandwiches zuständig war, Jean-Luc, die Ingenieure Bruno Morin und Bernard Boyer, und die Dunlop-Reifentechniker Alec Mascot und Ian Mills. Ein Praktiker und ein Wissenschaftler, also wieder diese unschlagbare Synergie zweier gegensätzlicher Typen. Darüber standen Teammanager Claude Leguezec und elf-Chef François Guiter. Ein echtes Verkaufstalent - elf, das war Guiter. Die ganze Werbekampagne, die Talentförderung, die Geldbeschaffung, das Firmenlogo - alles er.

Welcher Aufwand wurde betrieben?
Stewart: Der war größer, als viele Leute heute glauben wollen. Unsere Hauptgeldgeber waren Ford, elf und Dunlop. Wir waren deren Nummer-eins-Team und haben entsprechend eine Rekordzahl an Testkilometern zurückgelegt, hauptsächlich für Dunlop. Wir sind 14 Tage lang jeweils zwei GP-Distanzen gefahren. Das allein waren 9.000 Kilometer.

Wie hoch war das Budget?
Stewart: Ich bekam ungefähr eine Million Dollar. Das war damals eine Menge Geld. Motoren und Reifen gab es umsonst. Der Bau der Chassis wurde von Matra finanziert. Mein Teamkollege Jean-Pierre Beltoise bekam sein Gehalt von elf. Das Team kam mit etwa zwei Millionen Dollar aus.

Wie viele Chassis haben Sie 1969 gebraucht?
Stewart: Ein einziges, und einen Helm. Ich habe diesen Helm nie angeschlagen.

Hatten Sie gar keinen Unfall?
Stewart: Doch einen, im Training in Silverstone. Piers Courage lag vor mir. Beim Räubern über einen Randstein schleuderte er einen Stein Richtung meines Fahrzeugs. Er traf in der Woodcote-Kurve meinen Hinterreifen und schlitzte ihn auf. Bis mein Auto geflickt war, bin ich mit dem Chassis von Beltoise gefahren. Damit kam ich auf Startplatz zwei.

Welcher der sechs Siege 1969 gab Ihnen die größte Befriedigung?
Stewart: Der Sieg in Silverstone. Rindt und ich haben uns ungefähr 30 Mal überholt. Ein irres Rennen. Monza war auch gut, weil wir uns diesen Sieg mit Köpfchen erarbeitet haben. Im Ziel konnte man Rindt, Beltoise, McLaren und mich mit einem Handtuch zudecken. Es waren noch echte Windschattenduelle, wo es auf die letzten paar Meter aus der Parabolica raus ankam. Rindt und ich fuhren ohne Flügel, Beltoise und McLaren mit. Wir hatten im Training lange daran gefeilt, den vierten Gang optimal zu übersetzen. Und zwar so, dass er mich ab dem Scheitelpunkt der Parabolica bis knapp hinter den Zielstrich bringen würde. So war die bestmögliche Beschleunigung garantiert. Ein Wechsel in den fünften Gang vor dem Zielstrich hätte mich zu viel Zeit gekostet. Wir haben im Training so ein Finish mit der entsprechenden Spritmenge simuliert und den vierten Gang dann so übersetzt, dass er mich voll ausgedreht bis 30 Meter hinter die Ziellinie bringt. Und zwar unter allen Bedingungen. Wir wussten ja nicht, ob wir ausgangs der Parabolica vorn oder im Windschatten eines anderen Fahrzeuges liegen würden. In keinem der beiden Fälle durfte ich vor dem Ziel in den fünften Gang hochschalten. Es hat dann im Rennen genau so geklappt, wie wir das ausgerechnet hatten. Außerdem ging es ums Geld. In diesen Tagen gab es Preisgeld für bestimmte Führungsrunden. In denen wollten wir natürlich vorn liegen, und auch dafür brauchten wir den Trick mit dem vierten Gang.

Beim GP Spanien kam es zu schweren Unfällen wegen gebrochener Heckflügel. Danach wurden die hohen Flügel verboten. Hat das Ihren Matra negativ beeinflusst?
Stewart: Das Auto war total verändert. Beim darauffolgenden Rennen in Monte Carlo haben wir am Donnerstag noch mit den hohen Flügeln trainiert. Ab Samstag waren sie verboten. Völlig zurecht. In Barcelona sind mit Hill, Rindt und Siffert drei Autos böse von der Strecke geflogen, weil die Heckflügel gebrochen waren - ein Himmelfahrtskommando. Der Matra war trotz des gravierenden Eingriffs aber am wenigsten davon betroffen. Lotus und Brabham sind einen extremen Weg gegangen und wurden durch die Regeländerung am meisten bestraft. Wir hatten das Auto in weiser Voraussicht mit und ohne Flügel getestet, weil wir schon dachten, dass es mit diesen Flügeln, die hoch über dem Fahrzeug thronten, Schwierigkeiten geben würde. Wir waren also vorbereitet auf die neue Situation. Ich hatte prompt die Pole Position in Monte Carlo. Im Rennen bin ich wegen einer defekten Antriebswelle ausgefallen.

Was zeichnete den Matra MS80 aus?
Stewart: Es war das beste Rennauto, das ich je gefahren bin. Der MS80 wurde mit Technologien produziert, wie sie damals nur der Flugzeugbau kannte. Alles war genau berechnet, keine Bastelarbeit. Es war deshalb das steifste Chassis, das es damals gab. Was eine große Rolle spielte, denn wir sind seinerzeit noch mit großen Federwegen gefahren. Die ganze Konstruktion war viel weicher, als das heute der Fall ist. Da machte eine steife Zelle schon einen großen Vorteil aus.

Wie schwierig war es, Matra davon zu überzeugen, dass man besser mit einem Cosworth V8 als einem Matra V12 fahren würde?
Stewart: Wir haben es nie geschafft, sie davon zu überzeugen. Jean-Luc war so französisch, dass er von seinem eigenen Motor überzeugt war. Aber unser Erfolg mit dem Cosworth-Motor gab uns Recht. Vor 1968 kannte kein Mensch den Namen Matra. Spätestens nach meinem WM-Titel 1969 war Matra international bekannt. Nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft war Herr Lagardère so begeistert von der Vorstellung, dass ein durch und durch französisches Auto das Gleiche erreichen könnte. Er wollte deshalb für 1970 nur noch Einsätze mit dem Matra V12 zulassen. Als ich ein Formel 2-Rennen in Albi fuhr, gaben sie mir eine Chance, den Matra-Matra Formel 1 zu testen. Morgens um sechs, damit uns keiner sieht. Der Motor war ein wunderbares Stück Technik. Typisch für einen Zwölfzylinder ließ sich der Motor ganz leicht fahren. Die Power setzte im Gegensatz zum Cosworth sehr weich ein. Du hattest das Gefühl, unheimlich schnell zu sein. Doch du warst es nicht, und genau da lag das Problem. Der kleine Cosworth V8 passte viel besser ins Fahrzeug, er hatte mehr Topleistung, und er war zuverlässiger. Das Paket Matra-Cosworth war unschlagbar. Weil sich die Matra-Leute nicht überzeugen ließen, haben wir uns getrennt.

Und dann?
Stewart: Für eine Weile stand ich als Weltmeister ohne Auto da. Lotus und Brabham weigerten sich, an Tyrrell ein Auto zu verkaufen. Für eine Eigenkonstruktion waren wir noch nicht bereit. So mussten wir bei March ein Auto von der Stange kaufen. Im Vergleich zum Rennpferd Matra war der March ein Ackergaul. Robin Herd war ein guter Konstrukteur, doch er musste für March ein Auto bauen, das billig in der Herstellung war, damit es sich gut verkaufen ließ. Das Chassis verwand sich. Ich musste teilweise den Schalthebel festhalten, damit der Gang nicht heraussprang. Dauernd ging etwas kaputt.

1969 boykottierten die Fahrer zum ersten Mal einen Grand Prix aus Sicherheitsbedenken. War die Absage von Spa der Beginn einer neuen Epoche?
Stewart: Auf jeden Fall. Es war der Start einer ernsthaft geführten Sicherheitsdiskussion. Im folgenden Jahr musste der Nürburgring daran glauben. Wir hatten zu der Zeit einen unheimlich hohen Blutzoll. 1968 wurden vier Fahrer innerhalb von vier aufeinanderfolgenden Monaten getötet. Alle am ersten Wochenende des Monats. Dann folgte das Rennen am Nürburgring, am ersten Wochenende im August. Können Sie sich vorstellen, mit welchen Gefühlen wir in die Eifel gereist sind? Es war verrückt.

Welche Strecke war gefährlicher: Spa oder der Nürburgring?
Stewart: Der Nürburgring. Er hatte 173 Kurven und genauso viele Chancen, schwer zu verunglücken. Spa war mehr wegen seiner Geschwindigkeiten gefürchtet. Es durfte nichts am Auto brechen, weil es neben der Strecke nur Bäume, Telegrafenmasten, Böschungen und Bauernhäuser gab. Masta war eine Vollgasschikane mit je einem Haus in der Auslaufzone am Eingang und am Ausgang.

Wie oft konnten Sie sich damals eine Chaosrunde am absoluten Limit erlauben?
Stewart: Eine pro Wochenende. Jim Clarks und meine 100 Prozent waren 100 Prozent mit hoher Disziplin und einem gewissen Maß an Sicherheitsreserve. Wir haben es vermieden, Kurven abzuschneiden. Randsteine gab es ja nicht. Dafür vielleicht ein Loch, in dem etwas am Auto kaputtgehen konnte.

2009 hat Red Bull 19 unterschiedliche Frontflügel eingesetzt. Wie sah die Entwicklung bei Matra 1969 aus?
Stewart: Hin und wieder haben wir die Aufhängungsgeometrie modifiziert. Wir konnten die Details noch erkennen. Heute sind die Autos so kompliziert geworden, dass es für den Fahrer unmöglich geworden ist, den genauen Effekt einer Änderung zu begreifen. Ich wusste über das, was sich am Auto änderte, ganz gut Bescheid. Ich wusste, was Ackermannwinkel, Vorspur und Nachlauf bedeutet. Und was es im Fahrverhalten bewirkt, wenn man die Werte um ein halbes Grad verändert. Ich habe sehr viel Wert auf die Einstellung von Dämpfern und Federn gelegt. Vor allem darauf, wie sich das Ausfedern im Auto anfühlt. Das Ausfedern muss immer weicher ansprechen als das Einfedern. Damals gab es noch keine Computer. Deshalb war es wichtig, das den Ingenieuren zu beschreiben. Sie konnten ja nicht selbst fahren und das Gleiche fühlen, das ich fühlte.

War das Technikverständnis Ihr Vorteil?
Stewart: Ich war dazu gezwungen. Weil ich Legastheniker bin, habe ich mich mehr auf die Sprache konzentriert und meine Beschreibungen vom Fahrzeug ziemlich gut ausgeschmückt. Immer aus Angst, sie könnten nicht verstehen, was ich meine. Die Ingenieure wussten, was ich wollte, und ich habe bei der Konversation viel von ihnen gelernt. Deshalb waren die meisten meiner Rennautos immer gut fahrbar. Ich will, dass mich ein Auto einlädt, schnell zufahren. Nicht dass Schnellfahren zur Mutprobe wird. Das ist der völlig falsche Ansatz. Da geht dein ganzes Talent dafür drauf, die Mutprobe zu bestehen. Wenn das Auto gutmütig ist, dann kannst du das Talent dafür nutzen, schneller zu werden.

40 Jahre nach Ihnen wurde wieder ein englischer Fahrer Weltmeister. Wie sehen Sie die Formel 1 von heute?
Stewart: Die Geschichte wiederholt sich. Ich habe den Titel von Graham Hill übernommen, Jenson Button von Lewis Hamilton. Ich gehöre nicht zu denen, die glauben, dass die Vergangenheit besser war. Die Formel 1 von heute ist besser als die Zeit, die ich erleben durfte. Heute bleiben alle am Leben. Trotzdem hat uns unsere Zeit mehr Lebenserfahrung gebracht. Wir mussten sehr breit gestreut denken, weil noch nicht alles so durchorganisiert war.

Ist Button ein würdiger Weltmeister?
Stewart: Er hat die meisten Punkte gesammelt. Deshalb verdient er den Titel. Ich hätte mir gewünscht, dass sein tolles Rennen in Brasilien mit einer besseren Platzierung als Rang fünf belohnt worden wäre. Weltmeister mit einem fünften Platz zu werden ist nie ganz befriedigend. Er hat wie ich 1969 sechs Grand Prix gewonnen, aber wir hatten damals nur elf statt 17 Rennen. Ferrari und McLaren waren dieses Jahr nicht in Form. Dennoch kann ich mit Jenson als Weltmeister leben. Wem sonst sollten wir den Titel gönnen? Vettel mit vier Siegen? Webber und Barrichello mit je zwei? Button hat eben seine Chancen optimal genutzt, als der BrawnGP das beste Auto im Feld war. Das ist legitim. Was mir zurzeit in der Formel 1 fehlt, ist der absolute Superstar. Viele fahren auf einem sehr hohen Niveau, aber es gibt keinen Jim Clark, Niki Lauda, Alain Prost, Ayrton Senna oder Michael Schumacher.

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