Crash-Experte
Interview mit FIA-Unfallforscher Andy Mellor

Sie kommen von der Unfallforschung für den Straßenverkehr. Was ist da auf den Motorsport übertragbar?

Mellor: Die Erfahrungen von der Straße auf die Rennstrecke zu übertragen ist sehr limitiert. Da war einmal der Airbag, der im Straßenauto viele Menschenleben gerettet hat. Wir haben mit Hilfe von Mercedes untersucht, ob wir das gleiche System auch in einem Rennwagen anwenden können. Es war nicht übertragbar, aber daraus entstand HANS. Dieser Kragen bietet den gleichen Schutz ohne die Komplikationen, die ein Airbag mit sich bringt. Das andere Gebiet betraf Helme. Da wurde viel daran gearbeitet, den heutigen Standard zu bekommen.

Wie haben Sie alte Unfälle ohne Aufzeichnungen untersucht?

Mellor: Die ersten Unfälle, die wir untersucht haben, mussten wir ohne Hilfe einer Blackbox durchführen. Zum Beispiel den von Ratzenberger. Wir haben den Unfall im Labor anhand von Videos und Daten des Teams nachgestellt. Das gab uns eine klare Vorstellung, welche Kräfte damals gewirkt haben. In Ratzenbergers Fall traten Verzögerungen jenseits dessen auf, was überlebbar war. Aber wir haben sofort erkannt, dass eine seitliche Crashstruktur seine Chancen deutlich verbessert hätte. Mit den heutigen Autos wäre dieser Unfall überlebbar. Im Prinzip war der Unfall von Kubica in Montreal ein ähnliches Szenario.

Wann begann Sie mit dem Unfall-Datenschreiber?

Mellor: Die ersten ADRs wurden 1996 in Formel 1-Autos eingebaut. Zu Beginn haben wir nur die Beschleunigungen in 3 Achsen aufgezeichnet. Heute haben wir Beschleunigungsmessungen am Schwerpunkt des Autos und am vorderen Chassis-Schott. Dazu haben wir Sensoren in verschiedenen Positionen des Autos, die alle Bewegungen des Autos zu Längs- und zur Hochachse aufzeichnen. Das GPS im Auto gibt uns immer die Position in den einzelnen Phasen des Unfalls. Der einzige Punkt, in dem das GPS versagt, ist der Aufprall selbst. Wenn du dich bewegst, rechnet das GPS schon die nächste Position abhängig von der Geschwindigkeit und der Bewegungsrichtung aus. Bei einem Aufprall schießt die Bewegungslinie deshalb erst einmal über das Ziel hinaus, bis sie zum aktuellen Standort zurückkehrt.

Wie exakt sind die Messungen?

Mellor: Der Unfall von Loic Duval 2014 in Le Mans war das Paradebeispiel für die Exaktheit der Messungen. Das Auto hat vom Augenblick des Kontrollverlusts bis zum ersten Aufprall wirklich komplizierte Bewegungen vollzogen. Wir konnten sie sehr exakt darstellen. Schwierig wurde es dann, weil sich das Auto dann um die eigene Achse zu drehen und auf den Kopf zu stellen begann. Da waren die Sensoren, die im Audi eingebaut waren, am Limit. Die LMP1-Sensoren sind nicht so gut wie die in der Formel 1. Doch je besser die Aufzeichnungen durch Datenschreiber werden, umso weniger müssen wir Unfälle im Labor rekonstruieren, weil wir die Kinemetik des Autos schon sehr gut kennen. Bei einer Kollision mit mehreren Fahrzeugen sind wir heute in der Lage jede Bewegung jedes Autos eindeutig nachzuvollziehen. Der ADR verpasst nichts. Bei Auto gegen Auto ist es fast noch interessanter. Du bekommst Daten aus beiden Autos und kannst so das Billard besser nachvollziehen. Die siehst Aktion und Reaktion.

Sind Unfallschreiber Pflicht?

Mellor: Eine ADR muss sich in jedem Auto befinden, das an einer FIA-Meisterschaft teilnimmt. Das Problem beginnt bei den nationalen Rennen. Da spielen die Kosten eine Rolle. Deshalb stehen wir ständig in Verhandlungen mit Ausrüstern und kaufen große Mengen ein, um den Preis so niedrig wie möglich zu halten.

Inzwischen verkabeln Sie sogar die Piloten?

Mellor: Ein großer Schritt letztes Jahr war die Einführung von G-Sensoren in den Ohrenstöpseln der Formel 1-Piloten. Das Projekt läuft schon seit 2004, aber erst jetzt waren wir in der Lage, die Sensoren so klein hinzukriegen, dass sie in die Ohrenstöpsel passen und sich der Fahrer nicht gestört fühlt. Die ersten Versuche liefen in der IndyCar-Serie. Michael Schumacher war die treibende Kraft, das auch in der Formel 1 einzuführen. Auf dem Weg dorthin haben wir sogar eine Million Dollar Fördergelder des US-Verteidigungsetats noch zu Zeiten der Bush-Regierung bekommen. Herausgekommen sind hochkomplizierte Beschleunigungssensoren, aber dann ging das Geld aus. Der Chip, den wir jetzt benutzen, ist in den meisten Smartphones drin. Er ist so groß wie ein halbes Reiskorn. Und einer kostet nur 10 Euro. Jetzt ist auch der Fahrer bei einem Unfall voll transparent für uns. Wir sehen jetzt, wie sich der Kopf relativ zum Auto bewegt und welche Beschleunigungen auf den Kopf beim Aufprall einwirken.

Führen Sie immer noch Rekonstruktionen von Unfällen im Labor durch?

Mellor: Das Ziel war immer, einmal ganz auf Rekonstruktionen verzichten zu können. Wir bekommen die relevanten Daten jetzt automatisch und exakter als früher. Nur noch bei extrem ungewöhnlichen Unfällen, wie dem von Bianchi, planen wir noch eine Nachstellung im Labor ein. Wir glauben, dass wir immer noch viel daraus lernen können. Da wird auch noch einmal die Frage aufgeworfen, ob eine Cockpitkanzel sinnvoll wäre oder ein Schutz des Hindernisses. Die Berechnungen sprechen zwar dagegen, doch wir wollen das noch einmal in einem Laborversuch überprüfen.

Wie läuft so eine Rekonstruktion ab?

Mellor: Wenn die Daten ausgelesen sind, hängt es davon ab, wie der Unfall verlaufen ist. Dann entscheiden wir, ob es über die Datenerfassung hinaus weitere Untersuchungen geben wird. Nehmen wir den Unfall von Alan Simonsen in Le Mans. Wir haben die Daten studiert, das Wrack und den Unfallort inspiziert und dann versucht herauszufinden, was mit dem Fahrer in den Millisekunden des Einschlags passiert ist. Dann haben wir versucht herauszufinden, warum er einen Schädelbasisbruch erlitten hat. Wir haben beschlossen, dass wir für eine umfassende Aufklärung den Unfall nachstellen müssen. Das ist eine meiner nächsten Aufgaben. Dabei wird ein Dummy in exakt den Sitz gesetzt, wie er damals in den Aston Martin war und mit einer Struktur rundherum auf einem Hochgeschwindigkeitsschlitten mit der Einschlaggeschwindigkeit gegen ein Hindernis geschossen. Idealerweise treten am Dummy die gleichen Verletzungen wie bei dem verunglückten Piloten. Diesmal allerdings mit Sensoren bestückt, so dass wir ermitteln können, was in dem entscheidenden Augenblick passiert ist. So finden wir heraus, wie wir den Kopf schützen können, damit der Fahrer nach so einem Unfall unverletzt davon marschiert. Das Problem bei Langstreckenrennen: In Le Mans gibt es Fahrerwechsel, und die Fahrer sind unterschiedlich groß. Ich möchte auch noch den Unfall von Massa erwähnen. Wir haben ihn in einem Aeronatical Labor in Mailand nachgestellt und Objekte von der Größe und dem Gewicht einer Feder gegen Helme geschossen. Ferrari hat die Untersuchung bezahlt. Daraus entstand das Zylonband, mit dem die Visiere heute ausgestattet werden müssen. Die 60 Gramm Zylon reduzieren die Kräfte, die auf den Kopf des Fahrer durchschlagen, um mehr als die Hälfte. Hier gilt: Kleine Ursache, große Wirkung. Daraus entstand auch einer unserer neuen Prüfstände. Wir haben aus der 10 Millionen-Pfund teuren Kanone eine Vorrichtung entwickelt, die uns ähnliche Testreihen für nur noch 30 Pfund ermöglicht.

Gibt es Unfälle, die Sie sich bis heute nicht erklären können?

Mellor: Es gibt praktisch keine Geheimnisse oder Rätsel mehr. Ist ja alles Physik. Alles ist erklärbar. Es gab da allerdings einen Unfall in der Formel 3 oder Formel Renault. Ein Auto fuhr aufs andere, stieg auf und landete kopfüber auf dem anderen Fahrer. Der Fahrer, der im Zielauto saß, hat zwar unverletzt überlebt, aber sein Helm befand sich in einem fürchterlichen Zustand. Wir wollten verstehen warum. Dazu mussten wir herausfinden, welcher Prozentsatz der Kräfte durch den Kopf auf die Wirbelsäule und den Rumpf ging, und wie viel über die Helmschale ins HANS. Wir konnten den Schaden nie richtig reproduzieren.

Was ist der schlimmste mögliche Unfall?

Mellor: T-Bone Unfälle waren immer ein Schreckens-Szenario im Motorsport. Der Zanardi-Unfall hat lange Versuchsreihen in unseren Laboren angekurbelt. Wir haben so genannte Penetrations-Unfälle simuliert. Zuerst dachten wir, dass wir das Problem mathematisch lösen könnten. Wenn die Nase beispielweise bei einer Kraft von 200 Kilonewton kollabiert, muss die seitliche Crashstruktur 250 Kilonewton vertragen können. Als wir dann Laborversuche mit Chassis von Toyota und McLaren unternommen haben, sind uns die Augen aufgegangen. Das seitliche auftreffende Fahrzeug ist förmlich durch das andere hindurch gefahren. Die Teams haben gesagt, dass sie uns 5 Millimeter Platz geben, irgendetwas zu finden, um das das Eindringen zu verhindern. Von allen Materialien, die wir getestet haben, war Zylon das mit weitem Abstand beste. Red Bull hat dann ein Chassis mit einer 6,2 Millimeter Zylonschicht gebaut. Wir haben es getestet, und es hat funktioniert. Sowohl bei einem Aufprall mit der Nase und der Heck-Crashstruktur in die Seite.

Woran arbeiten Sie gerade?

Mellor: Wir testen gerade, welchen Einfluss die Nase bei einem Auffahrunfall hat. Die Mathematik ist klar. Wenn die Nase so hoch wie die Achshöhe oder darüber liegt, steigt das Auto bei einem Kontakt mit dem Hinterreifen immer auf. Wenn die Nase tiefer als 15 Zentimeter ist, taucht das auffahrende Fahrzeug unter das Ziel. Dazwischen wird es interessant. Es gibt einen Punkt knapp unter der Achslinie, da bricht die Hinterachse. Die Nase der aktuellen Formel 1-Autos liegt jetzt in einem Fenster, in dem ein Aufsteigen sehr unwahrscheinlich ist. Sie muss aber auch hoch genug sein, um bei einem Aufprall gegen ein Hindernis maximale Energie aufzunehmen und bei einem T-Bone Crash gegen das stabilste Teil der Seite zu prallen. Deshalb wollen wir keine tiefen Nasen mehr sehen. Dieses Jahr haben wir für die Nasen Regeln geschaffen, damit sie schon im vorderen Bereich bestimmte Kräfte aufnehmen können. Bei einem Versuch auf einem Flugplatz im Membery haben wir das Heck eines GP2-Autos auf eine Vorrichtung montiert. Das Hinterrad wurde zum Rotieren gebracht. Dazu nahmen wir ein anderes Formel-Auto auf das wir eine Formel 1-Nase montiert haben. Die Aufprall-Tests liefen mit einer Differenzgeschwindigkeit von 30 km/h ab. Das Delta bestimmt die Zeit, mit der die Nase und der Reifen in Kontakt sind. Bei Tests mit 7,5 km/h Differenz ist die Gefahr nicht besonders groß. Kritisch sind 20 bis 30 km/h. Bei höherem Delta bricht etwas ab. Nase gegen Reifen ist lösbar. Reifen gegen Reifen nicht. Allerdings besteht da die große Chance, dass vorher die Aufhängung bricht. Wir sind 3 Versuchsreihen gefahren. Erstens: 2015er Nase. Zweitens: Eine Erfindung von Red Bull. Eine Struktur hinter dem Hinterreifen, die sogar wieder höhere Nase erlauben würde. Dieser Schutz drückt die Nase beim Aufprall runter. Drittens: Eine Radabdeckung wie bei den IndyCars. Der Versuch hat gezeigt, dass wir mit der aktuellen Nasenhöhe genau richtig liegen.