Nach Monza hatte Ferrari sein Saisonziel verschoben. Der zweite Platz in der Marken-WM kommt vor einem Sieg. Weil das erste Ziel realistischer erschien. Teamchef Frédéric Vasseur machte den Tifosi trotzdem noch Hoffnung, dass den roten Autos doch noch ein Erfolg gelingt. "Es gibt im Restprogramm noch die eine oder andere Strecke, die uns besser liegt."
Damit war auch der Baku City Circuit gemeint. Seit vier Jahren steht dort Charles Leclerc ununterbrochen auf der Pole Position. Gewonnen hat er nie. Die Chancen stehen gut, dass es Ferrari auch diesmal in die erste Startreihe schafft. Sogar mit beiden Autos.
Lewis Hamilton meldete sich zum ersten Mal seit dem Sprint in Shanghai wieder mit einer Bestzeit zurück. 74 Tausendstel vor Baku-Spezialist Leclerc. Hamilton hatte in seiner schnellsten Runde allerdings weniger Sprit an Bord. Er fuhr seine Bestzeit später.
McLaren dagegen glänzte nur im ersten Training. In der zweiten Sitzung machten Lando Norris und Oscar Piastri regelmäßig mit den Mauern des Stadtkurses Bekanntschaft. Für Norris war nach sieben Runden Schluss. Piastri konnte mit ein paar Blessuren weiterfahren. An die Jagd auf die Bestzeit war nicht mehr zu denken.
Doch der WM-Spitzenreiter wirkte auch im Longrun nicht so souverän wie sonst. Piastri war im Schnitt um drei Zehntel langsamer als Max Verstappen, der sich ebenfalls dezent im Hintergrund hielt, sein Programm aber planmäßig abspulte.
Die schnellsten Dauerläufer waren die Ferrari. "Aber was sind die Longruns bei drei bis fünf Runden wert?", fragte selbst Vasseur. Auch Mercedes muss man auf der Rechnung haben, was die Plätze drei und vier bestätigten. Baku kommt Montreal am nächsten. Und da hatten die Silberpfeile gewonnen.
Der erste Trainingstag zum GP Aserbaidschan war davon geprägt, dass alle den C6-Reifen von Pirelli loswerden wollten. Man traut ihm selbst auf eine schnelle Runde weniger zu als der Medium-Mischung. Und im Rennen taugt er nur als Joker für einen späten Safety-Car-Restart.
Wegen der weicheren Mischungen als im Vorjahr ist nicht einmal ein Einstopp-Rennen in Stein gemeißelt. Alle wurden davon überrascht, dass die teilweise frisch asphaltierte Strecke mehr Grip bietet als im Vorjahr. Das führte dazu, dass einige Teams den Abtrieb reduzierten.

Lando Norris musste im zweiten Training mit verbogener Aufhängung vorzeitig aufgeben.
Sechs Dinge, die Sie wissen müssen:
Kann Ferrari mehr als die Pole-Position?
Ferrari ist auf jeden Fall ein Kandidat für die erste Startreihe. Wäre das zweite Training die Qualifikation gewesen, stünden jetzt zwei Ferrari in Reihe eins. Lewis Hamilton setzte zunächst auf Medium-Reifen die Messlatte, wurde dann im zweiten Teil der Sitzung von Charles Leclerc mit dessen zweitem Satz Soft überholt, nur um sich 15 Minuten vor dem Ende die Freitags-Pole-Position zurückzuholen. Da dann auch auf Soft-Reifen. "Mein bestes Freitags-Training", jubelte Hamilton. "Zu Beginn hatte ich noch Probleme mit den Bremsen. Das haben wir in der Pause gelöst. Dann stieg das Vertrauen ins Auto von Runde zu Runde."
Doch kann Ferrari auch den Longrun? Hamilton führte die Medium-Rangliste an, Leclerc die Soft-Wertung. Beide Ferrari-Fahrer waren aber nur jeweils drei Runden unterwegs. Also eine Rennsimulation mit beschränkter Aussagekraft. Teamchef Vasseur glaubt, dass man im Renn-Trim besser dastehen wird als noch im Sommer, sieht aber trotzdem kein klares Bild: "Es wird nicht einfach, mit einem Stopp über die Distanz zu kommen."

Lässt Ferrari seine Fans zum ersten Mal dieses Jahr jubeln?
Warum liegen die McLaren so weit hinten?
Lando Norris auf Rang 10, Oscar Piastri auf Platz 12. Ausgerechnet bei dem Rennen, bei dem McLaren den Konstrukteurs-Titel perfekt machen will, ging bei den Seriensiegern vieles schief. Lando Norris landete in den Kurven 2 und 4 kurz hintereinander zwei Mauertreffer. Danach war sein Papaya-Renner krumm und nicht mehr zu gebrauchen. Auch Oscar Piastri machte Bekanntschaft mit der Mauer. Er traf die Absperrungen in Kurve 15. Beim nächsten Versuch verbremste sich der Australier in Kurve 3. Und schon verschwanden die McLaren im Mittelfeld.
Norris musste den Longrun abblasen. Piastri schaffte nach dem Holperstart in das Training noch fünf Runden am Ende mit stark gebrauchten Soft-Reifen. Dass der WM-Spitzenreiter besser ist als das Ergebnis im zweiten Training, zeigte die erste Sitzung. Die gewann Norris vor Piastri. Mit einer halben Sekunde Vorsprung vor dem Rest. "Wir haben den Speed, können ihn aber nicht so einfach abrufen", klagte der WM-Spitzenreiter.

Red Bull fehlen noch ein paar Zehntel zur Spitze.
Kann Verstappen die McLaren ärgern?
Max Verstappen tauchte im ersten Training auf Platz 7 ab. Auf seiner besten Runde musste er in Kurve 15 durch den Notausgang. "Die wäre nicht weit weg von den McLaren gewesen", schätzte Sportchef Helmut Marko. So betrug der Abstand zu den McLaren eine Sekunde. Am Nachmittag ließ sich der Titelverteidiger die sechstschnellste Runde gutschreiben, sechs Zehntel hinter den Ferrari. Auch Verstappen wurde unter Wert geschlagen. Marko: "Realistisch fehlen uns eine bis eineinhalb Zehntel auf die Bestzeit."
Der Longrun macht Red Bull Hoffnung, sowohl der von Verstappen auf den weichen Gummis als auch der von Yuki Tsunoda auf dem Medium-Reifen. Technikchef Pierre Waché wunderte sich über den guten Grip vom Asphalt. "Viel besser als im letzten Jahr. Wir haben Abtrieb reduziert. Red Bull vertraut einem Spa-Flügel. Verstappen fuhr wie Leclerc, Piastri und Russell den ganzen Tag auf Soft-Reifen. Tsunoda wurde losgeschickt, um Daten mit der Medium-Mischung zu sammeln. Waché glaubt: "Der Medium könnte auch auf eine Runde besser sein."

Mercedes hinterließ einen guten Eindruck beim Baku-Auftakt.
Wiederholt sich für Mercedes das Montreal-Wunder?
Von der Streckencharakteristik kommt der Baku City Circuit Montreal am nächsten. Dem Ort, an dem die Silberpfeile ihren bislang einzigen Saisonsieg gefeiert haben. Auch den Kurs an den Ufern des Kaspischen Meeres prägen lange Geraden und rechtwinklige Kurven. "Wir fahren allerdings eine Stufe weniger Abtrieb als in Montreal. Das kann einen Unterschied ausmachen", warnte Chefingenieur Andrew Shovlin.
Mercedes montierte Monza-Flügel mit einer steileren Flap-Anstellung an seine Autos. George Russell und Andrea Kimi Antonelli zeigten auf den Plätzen drei und vier, dass sie bei der Musik sind. Im Longrun fehlte allerdings eine halbe Sekunde auf Verstappen. Auf Ferrari noch mehr. Bei Red Bull und Mercedes geht man allerdings davon aus, dass Ferrari im Dauerlauf leichter unterwegs war.

Oliver Bearman gilt als Baku-Spezialist. Am Freitag bestätigte der Youngster seinen Ruf.
Wer sind die Stars aus dem Mittelfeld?
Williams macht den besten Eindruck, gefolgt von Haas und Toro Rosso. Sauber ist nur im Longrun stark. Aston Martin verschwindet im Nirgendwo. Je geringer das Abtriebs-Niveau, je länger die Geraden, desto mehr Probleme haben die grünen Autos. Williams war das einzige Team, das die harten Reifen auspackte.
Alexander Albon zeigte bei seinem Sechsrunden-Trip, dass der harte Reifen über eine lange Distanz der beste Rennreifen ist. Carlos Sainz warnt jedoch vor Problemen, die Reifen für eine Qualifikationsrunde schnell genug in das richtige Fenster zu bringen: "So zufrieden wir mit unseren Longruns sind, so groß ist die Sorge, dass wir mit dem Soft-Reifen wieder Probleme bekommen."
Oliver Bearman demonstrierte als Fünfter, dass er ein Baku-Spezialist ist. Die Longruns deuten an, dass die US-Renner ernsthafte Punktekandidaten sind. "Wir hatten zu Beginn noch Probleme mit den Topspeed. Das aber haben wir gut gelöst", freute sich Bearman. Auch Esteban Ocon schaffte es auf Platz acht in die Top Ten. Der gute Grip vom Streckenbelag half Haas, den Anpressdruck zu verringern, was dem Speed auf den Geraden zugute kam.

Am Freitag haben die Teams versucht, so viele Softs wie möglich zu verbrauchen.
Ist der C6 ein Wegwerf-Reifen?
Ausnahmsweise waren sich mal alle Teams einig. Nach dem ersten Training bekam Pirelli 40 Garnituren C6-Reifen zurück. Alle Fahrer im Feld beschränkten sich auf Pirellis Superkleber, der dieses Jahr schon in Imola, Monte Carlo und Montreal zum Einsatz kam. Bereits da wurde die weichste Mischung im Angebot zum Teil verschmäht.
In Montreal qualifizierten sich George Russell und Max Verstappen auf Medium-Reifen für die erste Startreihe. Das gleiche Szenario befürchten die Teams in Baku. Zumal die Runde mit 6,003 Kilometern deutlich länger ist und die Gefahr besteht, dass der C6-Reifen am Ende der Runde einbricht. Ferrari machte im zweiten Training den direkten Vergleich. Lewis Hamilton war auf dem Medium-Gummi mit 1.41,543 Minuten um 0,243 Sekunden schneller als Charles Leclerc mit dem Soft-Reifen.
Pirelli-Sportchef Mario Isola glaubt nicht daran, dass seiner weichsten Mischung am Ende der Runde der Grip ausgeht. "Der C6-Reifen sollte die Runde überstehen. Aber er ist selbst auf dem Papier nach unseren Simulationen nur zwei bis drei Zehntel schneller als die C5-Mischung. Die Teams legen den C6-Reifen ab, weil sie sich mindestens drei Sätze medium und hart für das Rennen aufheben und so wenig wie möglich davon in den freien Trainingssitzungen herschenken wollen."
Deshalb ist der C6 in Baku ein Wegwerf-Reifen. "Pirelli hätte besser einen C1 mitgebracht. Das hätte die Teams unter Umständen in ein Zweistopp-Rennen gezwungen, weil der nie auf Temperatur gekommen wäre", meinte Mercedes-Chefingenieur Andrew Shovlin.
Im zweiten Training wurden dann endlich auch andere Reifen hervorgekramt als der Soft. Carlos Sainz, Nico Hülkenberg, Gabriel Bortoleto, Lewis Hamilton, Esteban Ocon und Isack Hadjar gingen mit Medium-Reifen auf die Bahn, Alexander Albon sogar mit den harten Sohlen. Zu Mitte der Sitzung stiegen die Experimentierer wieder auf Soft-Reifen um, während nun Liam Lawson, Yuki Tsunoda, Pierre Gasly, Franco Colapinto und Oliver Bearman Soft gegen medium eintauschten.












