Frédéric Vasseur im Interview: „Lewis ist zu hart mit sich selbst“

Interview mit Ferrari-Teamchef Frédéric Vasseur
„Lewis ist zu hart mit sich selbst“

ArtikeldatumVeröffentlicht am 18.08.2025
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Ihr Vertrag wurde nach vielen Turbulenzen verlängert. Um wie viel ruhiger können Sie jetzt arbeiten?

Vasseur: Für die Turbulenzen haben Gerüchte gesorgt. Die habe nicht ich gestreut, sondern die Medien. Weder Ferrari noch ich haben gesprochen. Aber heute kannst du derartige Störfeuer nicht vermeiden. Ich will nicht alle Journalisten über den Kamm scheren. Aber mit dem Internet ist die Berichterstattung viel aggressiver geworden. Es ist der Zwang da, Clicks zu produzieren. Als diese Gerüchte in Kanada zum ersten Mal auftauchten, war ich wirklich sauer. Weil sie zu weit gegangen sind. Meinem Technikchef Loïc Serra wurde vorgeworfen, dass er keinen guten Job macht. Dabei war das 2025er-Auto praktisch fertig, als Loïc anfing bei uns zu arbeiten. Die Geschichte mit Charles Leclerc war ähnlich. Einige haben regelmäßig geschrieben, dass Charles zu Mercedes geht. Es hat keinen interessiert, dass er immer wieder bestätigt hat einen langfristigen Vertrag mit Ferrari zu haben. Das hat einen Einfluss auf das Team. In Italien reagiert man halt emotionaler. Ohne diese Nebengeräusche wären meine Gespräche mit Ferrari viel schneller abgelaufen.

Hat es Ferrari geschadet?

Vasseur: Es geht hier nicht um mich. Solche Dinge können dazu beitragen, dass die Leute im Team ihren Fokus verlieren. Schauen Sie sich Red Bull an, was da in den letzten Wochen passiert ist. Es gab nur Gerüchte um Verstappen. Und das ist eine Stärke von McLaren. Sie haben es geschafft sich aus all diesen Geschichten und Verwerfungen rauszuhalten. Deshalb habe ich letztes Jahr die Verpflichtung von Lewis [Hamilton] noch vor der Saison bekanntgegeben. Wenn ich das zwischen Imola und Monte-Carlo gemacht hätte, wären viele in einen Panik-Modus gefallen. So war Carlos [Sainz] von Anfang an im Bilde und konnte die Situation verdauen, bevor alles anfing. Sein Fokus war auf seinem Job.

In der zweiten Saisonhälfte war Ferrari ungefähr gleich stark wie McLaren. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Wurde McLaren besser oder Ferrari schlechter?

Vasseur: An den letzten drei oder vier Wochenenden konnten wir die Lücke auf zwei Zehntel schließen. Wir hatten zu Beginn der Saison viele Probleme mit der Abwicklung an der Rennstrecke. Es gab Qualitätsprobleme, dann die Disqualifikationen. Da haben wir ein bisschen den Faden verloren. Es hängt so viel an Details, und die Qualifikation in Budapest war ein gutes Beispiel. Wenn du den Fokus auf die falschen Dinge lenkst, verlierst du sofort und massiv an Boden. Wäre Charles zwei Zehntel langsamer gewesen, wäre er Sechster und nicht Erster gewesen. Es ist sehr schwierig zu erkennen, auf was es in jedem Moment ankommt, um schnell zu sein.

Ferrari hat beim Design des Autos den größten Schritt im Vergleich zum Vorjahr gemacht. Hat das zunächst dafür gesorgt, dass man Boden verloren hat?

Vasseur: Es war die richtige Entscheidung. Zu Beginn mussten wir lernen, wie wir unser Auto auf die neue Architektur adaptieren mussten.

Was fehlt zu McLaren?

Vasseur: McLaren ist überragend beim Reifenmanagement, speziell bei Nässe oder Hitze. Uns haben die Disqualifikationen [in China] ein bisschen aus der Bahn geworfen. Wir mussten uns bei der Bodenfreiheit einen Sicherheitsspielraum lassen. Wie wir alle wissen, sind diese Fahrzeuge in Bezug auf die Bodenfreiheit extrem sensibel. Jeder Millimeter ist eine Position in der Startaufstellung. Wenn du nicht die volle Kontrolle über die Fahrzeughöhe hast, dann beeinträchtigt das die Wettbewerbsfähigkeit des Autos. Um das Problem zu lösen, verlierst du den Fokus auf andere Dinge. Das Vorbereiten der Reifen für die Qualifikation, die Aufwärmrunden, was weiß ich.

Mit welchen Einschränkungen beim Auto musste Ferrari anfangs leben?

Vasseur: Alles dreht sich um die Stabilität der aerodynamischen Plattform. Seit zwei Jahren schauen wir viel mehr auf eine gute Fahrbarkeit und Berechenbarkeit als auf den puren Abtrieb. Du willst die Schwankungen im Anpressdruck rausbringen, die sich einstellen, wenn die Räder einlenken, das Auto rollt oder einnickt. Den größten Schritt, den wir in dieser Beziehung seit 2023 gemacht haben, war Monza letztes Jahr. Dann holt der Fahrer mehr aus dem Paket heraus. Wenn er sich nicht sicher sein kann, was das Auto macht, ist er zu weit unter dem Limit.

Charles Leclerc - Ferrari - GP Ungarn - Budapest - 3. August 2025
Alastair Staley via Getty Images

Der Umgang der McLaren mit den Reifen ist eine Qualität, die sie mit in die Saison 2026 nehmen werden. Macht Ihnen das Sorgen?

Vasseur: Wir alle betreiben viel Aufwand, um auszufiltern, was wir für 2026 übernehmen können. Da zählen die Aufhängungen dazu, das Bremssystem. Nur bei der Aerodynamik kannst du nichts übertragen. Null. Außer dem grundsätzlichen Ansatz, dass Fahrbarkeit wichtig ist. Da könnte es im Übergang von einem Motor-Modus zum anderen auch zu Lastwechseln kommen. Es ist kein Zufall, dass viele Teams dieses Jahr in Aufhängungen investiert haben. McLaren, Mercedes, wir. Alles, was wir da lernen, kann nächstes Jahr von Vorteil sein.

Beim Einbau der Anti-Lift Hinterachsen gibt es offenbar große Unterschiede. Wer vorher damit geplant hat, genießt Vorteile. Wie ist das bei Ferrari?

Vasseur: Für uns ist es ein Schritt vorwärts. Ich hätte ihn gerne früher getan. Solche großen Änderungen mitten in der Saison sind aber nie so effizient wie solche, die von Anfang an geplant sind. Der Preis sind höheres Gewicht, aerodynamische Einbußen und Änderungen in der Fahrdynamik. Wir haben unser Auto für einen anderen Typ Aufhängung gebaut. Als wir die neue Hinterachse nach Spa gebracht haben, war ich schon nervös. Es war ein Sprint-Wochenende. Du musst bei begrenzter Zeit alle Reifenmischungen probieren. Da bleibt nicht viel Zeit für die Abstimmung des Fahrwerks. Am Ende hat es ganz gut funktioniert. Wir haben den Sprint als Test benutzt.

Wie schwierig ist es, in der Qualifikation immer das richtige Timing zu finden?

Vasseur: Das ist unmöglich. Die Unterschiede sind extrem klein. Jeder hat eine andere Aufwärmstrategie. So kannst du nur selten die Reifen optimal aufwärmen. Entweder du steckst im Verkehr, oder du musst ewig an der Boxenausfahrt warten. Dann aber ist der Motor zu heiß oder die Reifen zu kalt. Das schlimmste Szenario ist, dass die Reifen zu Beginn der Runde noch nicht im Fenster sind. Dann fängt das Auto zu rutschen an, und die Reifen schießen oben über das Ziel hinaus. Jedes Mal glaubst du hinterher, dass du jetzt alles verstanden hast, dass du weißt, wie du beim nächsten Mal die Reifen vorbereitest. Dann stellst du plötzlich fest, dass du nirgendwo bist.

Lewis Hamilton - Ferrari - GP Belgien 2025 - Spa - Formel 1
Ferrari

Warum tut sich Lewis Hamilton so schwer?

Vasseur: Oft sind es die Umstände, und Lewis war da zuletzt öfter auch der unglücklichen Seite. In Budapest lag er im Q1 vor Charles und war im Q2 nur um eine Zehntel langsamer. Zum Weiterkommen fehlten ihm 15 Tausendstel. Am Ende ist der eine Erster und der andere Zwölfter. Das sieht natürlich dumm aus. Es fehlte aber nicht viel, dann wären wir mit unseren beiden Fahrern auf Platz elf und zwölf gelandet. Rückblickend muss ich zugeben, dass wir, damit meine ich Lewis und ich, den Wechsel in eine andere Umgebung unterschätzt haben. Er war vorher 18 Jahre lang beim gleichen Team, wenn ich McLaren und Mercedes mal als eine Heimat bezeichnen darf. Es war ein englisches Team, und das Motorumfeld blieb immer das gleiche. Es ist ein größerer Unterschied zwischen Ferrari und Mercedes als zwischen Mercedes und McLaren. Als Lewis bei Ferrari ankam, dachten wir naiverweise, dass er alles unter Kontrolle haben würde. Er ist keiner wie Carlos Sainz, der alle paar Jahre das Team wechselt und mit diesem Vorgang vertraut wäre. Lewis hat vier bis fünf Rennen gebraucht, um die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Seit dem GP Kanada ist er eigentlich auf Kurs.

Was können Sie tun, damit sich Hamilton am Ende richtig wohl fühlt?

Vasseur: Ruhig bleiben. Darauf aufbauen, dass ihm der erste Schritt schon gelungen ist. Sich nicht runterziehen zu lassen von so Dingen wie in Budapest. Lewis ist sehr selbstkritisch. Er ist in seinen Ausschlägen immer extrem. Manchmal geht er mit dem Auto zu hart ins Gericht, manchmal mit sich selbst. Er will das Maximum aus sich und allen im Team herausholen. Man muss ihn dann runterbringen und ihm erklären, dass er im Q2 nur eine Zehntel weg war von dem Fahrer, der später die Pole-Position geholt hat. Das ist kein Beinbruch. Die Nachricht, die er damit aussendet, macht die Dinge nur schlimmer. Meistens ist er nur zur Presse so extrem. Wenn er dann in den Briefing-Raum kommt, hat er sich meistens schon wieder beruhigt. Das ist halt seine Art. Für mich ist das kein Drama. Er fordert viel. Von anderen, aber auch von sich selbst. Damit kann ich leben. Nico Hülkenberg war der gleiche, als er für mich in der Formel 3 gefahren ist. Er hat extrem viel vom Team verlangt. Er stand aber auch jeden Morgen um 6.30 Uhr auf der Matte.

Geht es im Vergleich zwischen Leclerc und Hamilton nur um Unterschiede im Detail? Gibt es einen Bereich, in dem er sich besonders schwertut?

Vasseur: Wir lösen die Probleme Schritt für Schritt. Sie sind nicht megagroß, sehen nur so aus. Wenn das Bremssystem nicht so ist, wie es der Fahrer gerne hätte, dann geht da vielleicht ein halbes Zehntel verloren. Von außen ist es oft schwer, schnell zu erkennen, wo genau er das halbe Zehntel verliert. So ein minimaler Zeitunterschied kann dir das ganze Wochenende zerstören. Das kann der Unterschied zwischen Q2 und Q3 sein. Lewis übertreibt manchmal mit Problemen, die er für sich im Auto sieht. Das Team will dann natürlich reagieren und alle stürzen sich auf dieses Problem.

Fred Vasseur - Ferrari - Formel 1 - GP Ungarn - Budapest - 31. Juli 2025
xpb

Diese Groundeffect-Autos verlangen einen sehr speziellen Fahrstil. Kann es sein, dass Hamilton damit auf Kriegsfuß steht?

Vasseur: Ich glaube nicht. Solange wir Bouncing hatten, vielleicht. Aber auch wenn wir immer an der Grenze zum Bouncing fahren, haben wir das jetzt einigermaßen unter Kontrolle.

Wie nah ist Ferrari im Moment an Ihrem Ideal?

Vasseur: Wenn ich jemals glauben würde, wir sind am Ziel, wäre das der Anfang vom Ende. McLaren macht einen fantastischen Job. Es ist aber nicht so, dass sie irgendeine Geheimwaffe haben, die ihnen drei Zehntel bringt. Eher zehn Bereiche, die jeweils 20 Millisekunden bringen. Wir müssen unseren Ansatz aufrechterhalten, dass wir in allen Disziplinen besser werden müssen. Es wäre naiv zu glauben, dass uns irgendeine Person plötzlich ein Wunder bringt. Es gibt keine Magie. Wir sind da auf einem guten Weg.

Vor einem halben Jahr waren Sie besorgt, dass ein Team 2026 weit voraus sein könnte. Ist das immer noch so?

Vasseur: Keiner kann vorhersagen, was bei so einer Regelreform passiert. Keiner hat 2009 geahnt, dass BrawnGP mit seinem Doppeldiffusor allen um vier Zehntel davonfährt. Und die kamen aus dem Nichts. Diesmal ist die Regeländerung noch größer. Alles ändert sich: Chassis, Antrieb, Benzin, Reifen, das sportliche Reglement. Du kannst in jedem dieser Bereiche den Unterschied ausmachen. Beim Motor erwartet uns eine neue Herausforderung. Jetzt ist die Power entscheidend. Nächstes Jahr wird es die Fahrbarkeit sein. Der eine Motor wird vielleicht in Monza gut sein, der andere in Monte Carlo oder Budapest. Fast so wie einst, als die Turbos gegen die Sauger angetreten sind.

Wie wichtig ist es, schnell auf Entwicklungen zu reagieren?

Vasseur: Ich hoffe, dass es so ist. Im Reagieren sind wir gut. Die Ungewissheit macht die nächste Saison aus Sicht der Zuschauer auch so spannend. Nehmen wir mal an, einer holt durch bessere Nutzung der Reifen oder durch ein Schlupfloch beim Chassis eine halbe Sekunde raus. Es wird schwierig, das mit einem besseren Motor zu kompensieren.