McLaren wird immer nervöser: Im Würgegriff der Papaya-Regeln

McLaren wird immer nervöser
Im Würgegriff der Papaya-Regeln

GP Singapur 2025
ArtikeldatumVeröffentlicht am 06.10.2025
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Max Verstappen hätte gerne gewonnen. Dann hätte er mehr Punkte auf die McLaren-Fahrer gutgemacht. Mit einer Differenz von drei Zählern auf Lando Norris und sechs auf Oscar Piastri reichen ihm sechs noch ausstehende Grands Prix und drei Sprintrennen nicht, um die Gegner noch einzuholen. Verstappen muss damit rechnen, dass McLaren auf der ein oder anderen Rennstrecke auch nochmal gewinnt.

Doch der Titelverteidiger hat einen Mitspieler. McLaren selbst stolpert von einer Baustelle in die nächste. Plötzlich findet die Teamleitung auf jeder Rennstrecke einen Grund, warum die Gegner besser sind. Mal sind die Geraden zu lang, mal die Kurven zu kurz, mal die Bremszonen zu uneben. Man redet Red Bull stark und nimmt sich selbst heftig in die Kritik. Daraus entsteht unnötiger Druck. Die Lockerheit ist längst weggeblasen.

Tatsache ist, dass McLaren dieses Rennen gewonnen hätte, wenn einer der Fahrer es auf die Pole Position geschafft hätte. Selbst bei Mercedes gab man zu, dass McLaren am Sonntag über das schnellste Auto verfügte, es aber nicht zeigen konnte, weil man nie freie Fahrt hatte. Für die Quali-Niederlage greift sich Andrea Stella an die eigene Nase: "Mercedes und Red Bull waren am Samstag besser als wir."

Konstrukteurs-Titel ging unter

Der Konstrukteurs-Titel für McLaren ging fast unter, obwohl er eine beeindruckende Leistung ist, weil er schon sieben Rennen vor Schluss festgezurrt wurde. Doch alle sprachen über eine Szene beim Start, die eigentlich wie ein normales Duell aussah, gäbe es bei McLaren nicht die Papaya-Regeln und eine lange Vorgeschichte.

Oscar Piastri war beim Erlöschen der Ampel ein bisschen zu zögerlich. War es eine Folge seines Frühstarts in Baku? Eigentlich hätte er eine gute Chance gehabt, Verstappen beim Spurt in die erste Kurve zu schlagen. Weiter hinten im Feld büßten fast alle Fahrer mit geraden Startplätzen für die schmutzige Spur.

Piastri rechnete wohl auch nicht damit, dass Kollege Norris in Kurve 2 das Gas länger stehenlassen würde und sich so in Kurve 3 innen neben ihn setzt. Der Engländer war sogar so schnell dran, dass er fast noch Verstappen auf die Hörner genommen hätte. So stand er kurz quer und rempelte Piastri eine Kurve weiter auf die schmutzige Spur, so dass der fast noch einen Platz gegen Charles Leclerc verloren hätte.

Piastri vs. Norris - McLaren - Formel 1 - GP Singapur 2025
Sam Bloxham via Getty Images

Seit Monza ist nichts mehr normal

In fast jedem anderen Team hätte der betroffene Fahrer am Funk kurz seinem Zorn freien Lauf gelassen, und dann wäre der Fall gegessen gewesen. Selbst die Sportkommissare urteilten nach kurzer Analyse: Kein Handlungsbedarf. Doch bei McLaren gibt es die Papaya-Regeln, die sich das Wort Fairness groß an die Fahnen geheftet haben, und da ist eben nichts mehr normal.

Nicht mehr seit Monza. Da musste Piastri seinen Platz an Norris zurückgeben, weil der durch einen lahmen Boxenstopp hinter den Australier fiel. Mit der geänderten Boxenstopp-Reihenfolge hatte das nichts zu tun. Piastri fügte sich, gab aber am Funk klar seine Meinung kund: "Was kann ich für den schlechten Boxenstopp?"

Danach gab es eine ausführliche Aussprache unter Männern, wie es sie laut Stella bei strittigen Szenen immer gibt, und man kam überein, dass alles im Rahmen des internen Verhaltenskodex abgelaufen war. Piastri kam sogar zu der Einsicht: "Ich hatte den zweiten Platz in Monza nicht verdient, weil ich nicht gut genug gefahren war."

McLaren - Formel 1 - GP Singapur 2025
Steven Tee via Getty Images

Piastri verliert seine Geduld

Doch Monza fährt im Hinterkopf weiter mit. Bei beiden Fahrern. Weil es bei ähnlichen Vorfällen nach Wiedergutmachung verlangt. Als Norris gefragt wurde, ob man Piastri vorher an die Boxen holen soll, weil sich Leclerc dessen Boxenstoppfenster näherte, lehnte der Engländer ab. Seit Monza sind ihm solche Tauschgeschäfte suspekt. Piastri wehrte sich müde gegen Strategievorschläge vom Kommandostand, so als hätte er jedes Vertrauen in sein Team verloren. Bis er irgendwann aufgab: "Macht, was ihr für richtig haltet."

Da ist das unbestimmte Gefühl im Hinterkopf, dass er in diesem Jahr strategisch öfter auf der schlechteren Seite war als sein Teamkollege. In Imola, Spielberg und Budapest passte das Timing des Boxenstopps nicht. Piastri bekam nichts zurück. Auch in Singapur nicht. Als sich Piastri für seine Verhältnisse ungewöhnlich ausführlich darüber beschwerte, dass Norris seinen Platz nicht räumen musste, bedauerte sein Renningenieur: "Die Sportkommissare haben auch so entschieden. Lando musste Verstappen ausweichen."

Piastris Einwand, dass Norris beim Ausweichen ja wohl einen schlechten Job gemacht habe, wenn er mit dem eigenen Teamkollegen kollidiert, stieß auf taube Ohren. "Wir klären das nach dem Rennen", hörte der WM-Spitzenreiter am Funk. Die Reaktion zeigt, dass der sonst so coole Australier plötzlich nicht mehr so cool ist. So gibt er eine seiner größten Qualitäten auf.

Bis zum Boxenstopp fuhr der Frust mit. Piastri verlor im ersten Stint ohne sichtbaren Grund 4,5 Sekunden auf Norris. Ein 5,2-Sekunden-Stopp vergrößerte den Rückstand noch mehr. Erst in der zweiten Rennhälfte wachte Piastri auf und machte noch acht Sekunden auf Verstappen und Norris gut. Im Ziel hatte er sich wieder im Griff. Ein endgültiges Urteil über den Nahkampf in der dritten Kurve wolle er erst abgeben, nachdem er die Szene im Fernsehen gesehen habe.

Andrea Stella - McLaren - Formel 1 - GP England 2025
Kym Illman via Getty Images

Stella verspricht akkurate Analyse

Andrea Stella musste nach dem GP Singapur wieder viel zu der Szene gleich nach dem Start erklären, dabei hätte er viel lieber über den zweiten Konstrukteurs-Titel in Folge gesprochen. Auch diesmal wird es wieder eine akkurate Aufarbeitung des Falles geben, versprach der Italiener, bei dem alle Beteiligten zu Wort kommen. Und natürlich wird das Team daraus gestärkt hervorgehen.

Stella nahm es Piastri nicht übel, dass er so deutlich seine Meinung am Funk äußerte. "Wir wollen, dass unsere Fahrer Position beziehen. Man muss nur verstehen, dass das eine sehr beschränkte Sicht aus dem Cockpit in der Hitze des Gefechts ist. Für ein faires Urteil muss man alle Perspektiven betrachten. Das werden wir nächste Woche so tun, wie wir das immer getan haben. Und wenn etwas daran falsch war, werden wir es ändern."

Es sei zu simpel, zu behaupten, Norris habe da eine Lücke gesehen, die nicht da war. Die Berührung mit dem Schwesterauto sei schließlich eine Konsequenz dessen gewesen, dass Norris Verstappen ausweichen musste und dabei kurz quer gestanden ist. Im Startgetümmel kann so etwas vorkommen.

Wird Verstappen der Profiteur?

Und mal ganz ehrlich: Verstappen hätte im Fall von Norris genauso gehandelt. Nur bei Red Bull wäre es keine Diskussion wert gewesen. Der Chefpilot macht, was er will. Deshalb ist er so gefährlich für das zweite große Ziel von McLaren, jetzt auch noch den Fahrer-Titel nach Woking zu holen.

Stella räumt immerhin ein, dass die Papaya-Regeln das Team mitunter im Würgegriff halten. "Du kannst nie 100-prozentig fair zu beiden Fahrern sein. Mal bleibt der eine auf der Strecke, mal der andere. Wir verfahren nach dem Prinzip: Lass sie gegeneinander fahren. Wir müssen damit leben, dass daraus Probleme entstehen können. Bis jetzt aber konnten wir uns immer um Schwierigkeiten herum navigieren."

Bis jetzt. Doch der Tag kann kommen, an dem Max Verstappen der große Profiteur ist. Zum Beispiel wenn Piastri in der Endabrechnung die drei Punkte von Monza und die drei Punkte von Singapur fehlen.