Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Nach dem Grand Prix der Niederlande führte Oscar Piastri mit 34 Punkten Vorsprung auf Lando Norris die Gesamtwertung an. Sechs Rennen später hat er 24 Zähler Rückstand. Der Teamkollege hat seit Monza 58 Punkte aufgeholt. Piastri ist seit diesem Rennen nicht mehr auf das Podest gefahren. In den letzten drei Rennen kam er jeweils nur als Fünfter ins Ziel.
Wenn er in der ersten Saisonhälfte mal ein schlechtes Rennen hatte, wurde er hinter Norris Zweiter oder Dritter. Jetzt nehmen ihm neben Max Verstappen mal die Mercedes, mal die Ferrari Punkte ab. Alle Qualifikationen, Sprints und Rennergebnisse der jüngsten Grands Prix zusammengerechnet hatte Norris mit 14:1 die Nase vorn.
Das ist mehr als ein Formtief. Das ist ein Erdrutsch, den Teamchef Andrea Stella nicht mehr nur mit Rennstrecken erklären kann, die dem Fahrstil von Norris entgegenkommen und dem von Piastri nicht. Da ist eindeutig etwas im Kopf passiert. Und es ist kein Zufall, dass der einstige WM-Favorit nach Monza nicht mehr auf die Beine kommt. Der Platztausch beim GP Italien muss ihm vorgekommen sein wie ein Vertrauensbruch.
Zu viel Ballast im Kopf
Der coole Hund aus Melbourne ist halt doch nicht der Eisberg, an dem alles abprallt. Ein Vertrauter von Piastri sagt: "Oscar zählt zu den Menschen, die nichts nach draußen dringen lassen. Stattdessen frisst er alles in sich hinein." Irgendwann wird der Ballast zu groß und das Fass läuft über. Und Piastri kann den Prozess seit Monza nicht mehr stoppen. Jede Niederlage baut mehr Druck auf, und mehr Druck zwingt den siebenfachen Saisonsieger zu mehr Risiko.
In Baku flog er zwei Mal in die Mauer und fabrizierte dazu noch einen Frühstart. In Singapur lud er Norris durch einen zögerlichen Start dazu ein, die zwei Plätze zu gewinnen, die der Engländer am Start hinter ihm stand. Dass Norris trotz einer leichten Kollision ungeschoren davon kam und erst hinterher eine symbolische Team-Strafe erfuhr, hat das Vertrauen von Piastri weiter beschädigt. Dass man ihm nach der Startkarambolage beim Sprint in Austin intern eine Mitschuld gab, noch mehr.
Beim GP Brasilien taumelte der WM-Zweite von einer Panne in die nächste. Im Sprint traf er einen nassen Randstein und flog ab. Im Hauptrennen wollte er nach einem Re-Start mit der Brechstange an Andrea Kimi Antonelli und Charles Leclerc vorbei. Er schob den Mercedes in den Ferrari. Zehn Sekunden Strafe, Game over.
Mehr Fehler in fünf Rennen als in 61
Piastri hat in den ersten 61 Grands Prix seiner Karriere nicht so viele Fehler gemacht wie in den letzten fünf. Er ist über Nacht nicht zu einem schlechteren Rennfahrer geworden und Norris zu keinem besseren. Der Engländer wurde mental stärker, ist laut Stella resilienter geworden gegenüber Rückschlägen, speziell nach dem Motorschaden in Zandvoort. Aber nie war Norris so von der Rolle, wie es jetzt sein Teamkollege ist.
Am meisten muss Piastri der große Zeitabstand zu denken geben, der sich plötzlich zwischen ihm und Norris auftut. Vorher waren es Hundertstel in die eine oder andere Richtung. Jetzt sind es zwischen drei und sieben Zehntel. In Interlagos waren es 0,375 Sekunden, was ein Lichtjahr ist, wenn man bedenkt, dass die Top-10 innerhalb einer halben Sekunde lagen.
Andrea Stella führte erneut seine "Low-Grip"-Theorie ins Feld. Die Strecke, die eigentlich gut Haftung bietet, sei zum Samstag hin immer rutschiger geworden. Somit habe man Verhältnisse gehabt wie in Austin und Mexiko. "Oscar lernt gerade, wie er seinen Fahrstil bei diesen Bedingungen umstellen muss. Das wird ihn in Zukunft noch besser werden", versucht der Teamchef sein Sorgenkind aufzubauen.

Die Pace von Oscar Piastri in Brasilien war immerhin ermutigend.
Kleiner Lichtblick in Brasilien
Piastri wiederholt brav die Sprachregelung seiner Chefs, doch so richtig dran glauben, will er wohl selbst nicht. Man hat den Eindruck, als folge er jeder Erklärung, nur um eine zu haben. Es gab schon vorher Strecken mit wenig Grip im Kalender. Shanghai zum Beispiel, der Ort seines ersten Saisonsieges. Da hatte er seinen Fahrstil innerhalb einer Trainingssitzung umgestellt.
Am besten für Piastri wäre es, wenn es technische Gründe für das Loch gäbe, in das er gefallen ist. Wenn sich zum Beispiel der McLaren in den letzten Rennen so verändert hätte, dass sich das negativ für seinen Fahrstil auswirken würde. Doch der Konstrukteurs-Weltmeister brachte seit Silverstone kein echtes Upgrade mehr. Pirelli tendiert jüngst zu etwas höheren Luftdrücken und man hört aus Piastris Umfeld, dass sich dadurch die Reifen etwas steifer anfühlen, doch das wäre keine Änderung, die die riesigen Rückstände erklärt.
Nach dem GP Brasilien wollte Stella eine kleine Wende zum Positiven erkannt haben. Zwei Drittel des Rennens war Piastri so schnell wie Norris, obwohl er öfter im Verkehr steckte als der Stallrivale. Im ersten Stint verlor er 6,7 Sekunden, weil er sich im Duell mit Antonelli und Leclerc einen Bremsplatten einfing. Im zweiten Stint gewann Piastri 0,2 Sekunden auf Norris, im letzten verlor er 1,4 Sekunden, wurde aber die letzten drei Runden von George Russell aufgehalten. Unter dem Strich konnte er das Tempo also halten. Das war schon lange nicht mehr der Fall.












