Der Mercedes mag Strecken mit langen Geraden. Mit vielen Bremszonen, in denen man das Bremsmanöver abschließen muss, bevor der Fahrer einlenkt. Mit kurzen Kurvenradien und Stellen, wo die Traktion zählt. Mit einem Layout, das nicht zu viel Abtrieb verlangt. Mit einem Asphalt, der eben ist, damit man tief fahren kann, und auf dem man die Reifen nicht zu leicht überhitzt. Montreal und der Baku City Circuit sind solche Strecken.
Der Marina Bay Circuit in Singapur hat ebenfalls einige dieser Anforderungen im Angebot, aber nicht alle. Die Strecke verlangt maximalen Anpressdruck. Das ging in Monte Carlo in die Hose. Da fehlt der Mix aus Geraden und den bevorzugten Kurven. Oder in Zandvoort. Da sind die Kurven zu lang. Der teilweise neue Asphalt und die Hochdruckreinigung in Singapur kamen Mercedes und einigen anderen Autos wie schon in Baku entgegen. So kann man tiefer fahren ohne sich Sorgen zu müssen, mit der Bodenplatte in Konflikt zu kommen.
George Russell stellte seinen Mercedes auf überzeugende Art auf die Pole Position. Seine beiden Q3-Runden hätte für den besten Startplatz gereicht. Einen Tag zuvor steckte er seinen Silberpfeil in Kurve 16 noch in die TecPro-Bande. Es war ein taktisch kluger Crash. Normalerweise wäre der ausbrechende Mercedes seitlich in den Absperrungen gelandet. Russell entschied sich für einen Frontalaufprall. "Da geht weniger kaputt."
Vertrauen langsam wieder aufgebaut
Der Engländer merkte an, dass er eigentlich kein Crash-Pilot ist. "Der letzte Unfall ist über ein Jahr her." Trotz des eher bescheidenen ersten Trainingstages war Russell zuversichtlich, dass er mit kleinen Änderungen am Auto um die Pole Position mitkämpfen könnte.
Andrea Kimi Antonelli hatte schon im zweiten Training angedeutet, was möglich war. Es merkte nur keiner, weil der Italiener nach zwei Sektoren wegen einer roten Flagge abbrechen musste. "Ich habe mir von Kimi einiges abgeschaut", gab Russell zu. Auch das Selbstvertrauen, im entscheidenden Moment jeden zu schlagen. Teamchef Toto Wolff stellte fest: "Im dritten Training und im Q1 hat George sein Vertrauen nach dem Unfall langsam wieder aufgebaut."
Antonelli wollte mehr als den vierten Platz. "Ich war stark im dritten Training und habe auch im Q1 und Q2 gezeigt, dass die Pole Position heute möglich gewesen wäre. Leider war ich im Q3 in bisschen zu aggressiv und habe dadurch Rundenzeit liegengelassen. Trotzdem habe ich von meinem Startplatz aus die Möglichkeit, um einen Podestplatz zu kämpfen."

Russell war eigentlich nicht als Favorit in das Singapur-Qualifying gegangen.
Mercedes-Piloten können ins Risiko gehen
Russell dagegen ist auf Sieg gepolt. So wie in Montreal, wo ihm das auch von der Pole Position gelang. "Ich stehe beim Start auf der sauberen Seite. Da sollte ich die Führung verteidigen können." Die Mercedes-Fahrer haben im Gegensatz zu Max Verstappen und den McLaren-Piloten den Vorteil, dass sie mehr ins Risiko gehen können. Sie fahren nicht um den Titel.
Die große Unbekannte ist die Reifenabnutzung. Und das war nicht immer die Stärke der Silberpfeile. "Die McLaren sind in der Disziplin normalerweise die Besten. Und Max ist zur Zeit der Mann, den man schlagen muss. Wir werden uns was einfallen müssen, um vorne zu bleiben", kündigt Russell an. Möglicherweise kommt ihm der deutlich verbesserte Grip vom Asphalt entgegen. Und die Option eines Zweistopp-Rennens, die wegen der Erhöhung des Tempolimits in der Boxengass wieder attraktiver wird.
Mit Singapur hat der WM-Vierte noch eine Rechnung offen. 2023 warf er einen möglichen Sieg durch einen kleinen Konzentrationsfehler weg. Russell streifte bei der Verfolgung des späteren Sieger Carlos Sainz in der letzten Runde die Mauer. "Das erinnert mich daran, dass du hier für einen minimalen Fehler maximal bezahlen kannst."












