Stellen wir uns vor, es gäbe keine Autogeschichte. Keine knatternden Verbrenner, keine Kardanwellen, keine ewige Diskussion über Tankstellen oder Ladezeiten. Wir beginnen bei null – Jahr Eins der Mobilität. Wie sähe das perfekte Auto aus, wenn wir alle alten Zöpfe einfach abschneiden dürften? Sicher elektrisch, das ist gesetzt. Aber warum eigentlich noch mit langen Antriebswellen, Getrieben und Differenzialen?
Warum nicht den Motor direkt dorthin setzen, wo die Kraft hingehört – ins Rad? Radnabenantriebe wären in so einem Reset-Szenario nicht exotische Technik aus dem Labor, sondern der logische Standard. Effizient, platzsparend und mit maximaler Kontrolle über jedes einzelne Rad. Klingt nach Science-Fiction? Vielleicht. Aber womöglich ist es die Zukunft, die wir uns bisher verbaut haben, weil wir so lange an der Vergangenheit festgehalten haben.
Wirklich so viele Nachteile?
Bisher überwogen die Nachteile bei der Radnabentechnik. Ein zentrales Problem ist die deutlich erhöhte ungefederte Masse, da das Gewicht des Motors direkt im Rad liegt. Dies wirkt sich negativ auf Fahrkomfort und Fahrdynamik aus, insbesondere auf unebenen Straßen. Mittlerweile sind Räder und Reifen aber deutlich größer geworden. Zusammen mit der ebenso gewachsenen Bremsanlage wiegt so eine einzelne Einheit schon mal 60 Kilogramm oder mehr. Zum Vergleich: Das kompakte Radnabenmodul mit integrierter Bremse kommt auf 32 Kilogramm.
Als Nachteil kommt hinzu, dass die Motoren im Rad dauerhaft starken mechanischen Belastungen durch Stöße, Vibrationen sowie Einflüssen wie Wasser, Schmutz und Streusalz ausgesetzt sind. Dadurch steigen die Anforderungen an Abdichtung, Haltbarkeit und Wartung erheblich. Auch der Bauraum im Rad stellt ein Problem dar. Schließlich wäre die Leistungsausbeute bei E-Maschinen nach bisherigem Standard zu gering. Dazu ließen sich größere Bremsanlagen oder komplexe Fahrwerkskonstruktionen bisher nur schwer mit Radnabenmotoren kombinieren.
Zudem ist die Kühlung erschwert, da im Rad nur begrenzt Platz für effiziente Wärmemanagementsysteme zur Verfügung steht. Bei hohen Dauerleistungen, wie sie etwa im Autobahnbetrieb oder beim Ziehen von Anhängern auftreten, kann dies die Leistungsfähigkeit einschränken. Schließlich erhöht sich durch die notwendige Ansteuerung mehrerer einzelner Motoren die Komplexität des Gesamtsystems. Verkabelung, Steuerungselektronik und Kühlung müssen für jedes Rad separat ausgelegt werden, was nicht nur den technischen Aufwand, sondern auch die Kosten steigen lässt.
Praktische Beispiele? Selten
So viel zur Theorie. In die seriennahe Praxis haben es bisher schon aufgrund der Vorbehalte nur wenige bis keine Beispiele geschafft. Bis jetzt. Denn spätestens nachdem wir ein Tesla Model 3 mit zwei Radnabenmotoren in den Hinterrädern über den Salzburgring gefahren sind, können wir sagen: Die Zeiten werden sich ändern. Denn das Münchener Start-up DeepDrive hat mit einem komplett neuen Motor-Layout auf Doppelrotor-Radialfluss-Technik den Beweis geliefert.
Aus extrem kompakten Baumaßen holt DeepDrive nämlich mehr als genug Power, um einen Serien-Tesla locker abzuhängen. Dazu sind die Ingenieure längst so weit, die Abdichtung sowohl bei Kühlung als auch bei Hochspannungsleitung narrensicher und für ein ganzes Autoleben auszulegen. Integration der Bremse? Dank der Entwicklungshilfe von Zulieferer Conti längst zur Serienreife entwickelt – zumindest für die Hinterachse (Trommelbremsen). Aber auch an Vorderradmodulen mit Bremsscheiben stehen die Techniker kurz vor einer Serienlösung.
Die Effizienz-Vorteile sind unschlagbar
Ein wesentlicher Vorteil liegt im Direktantrieb: Die Kraft wird ohne Umwege über Getriebe, Differenzial oder Antriebswellen direkt auf die Räder übertragen, wodurch mechanische Verluste reduziert und der Wirkungsgrad des Antriebs erhöht werden. Im Falle des Tesla konnte DeepDrive die Effizienz und Reichweite um unglaubliche 20 Prozent steigern. Gleichzeitig ermöglicht die Integration des Motors in die Radnabe eine effizientere Raumnutzung, da ein zentraler Motorraum entfällt. Dies schafft zusätzlichen Platz für Passagiere, Gepäck oder Batterien und könnte in Zukunft insbesondere für Vans, Kleintransporter oder Spezialfahrzeuge von Bedeutung werden.
Ein weiterer Vorteil ergibt sich aus der Möglichkeit, jedes Rad unabhängig anzusteuern. Diese Technik erlaubt präzises Torque Vectoring, das Traktion, Kurvenstabilität und Bremsverhalten verbessert und somit auch die Fahrsicherheit erhöht. Auch die Rekuperation kann optimiert werden, da jedes Rad einzeln Energie zurückgewinnen kann, was insbesondere auf kurvigen Strecken oder bei wechselnden Fahrbedingungen die Effizienz steigert. Von diesem technischen Potenzial konnten wir uns auf der Rennstrecke bereits überzeugen.
Viel günstiger in der Herstellung
Darüber hinaus erleichtern Radnabenmotoren modulare Fahrzeugplattformen, da Hersteller die Anzahl und Leistung der Motoren flexibel an unterschiedliche Fahrzeugtypen anpassen können, von kleinen Stadtfahrzeugen bis hin zu größeren Nutzfahrzeugen. In Zukunft dürfte dieses Thema gerade mit Blick auf Produktionskosten immer weiter in den Fokus großer Autohersteller rücken.
In die gleiche Kerbe schlägt das Argument der geringeren Komplexität. Da Getriebe, Differenzial und Antriebswellen entfallen, sinkt nämlich der Bedarf an komplexen mechanischen Bauteilen erheblich. Dies kann die Fertigung vereinfachen und Materialkosten reduzieren. Gleichzeitig können die wegfallenden Bauteile den Montageaufwand verringern, was gerade bei modularen Plattformen für unterschiedliche Fahrzeugvarianten wirtschaftlich vorteilhaft ist.
DeepDrive-Technik mit enormen Kostensenkungen
Bei kompakter Bauweise und niedrigem Gewicht schaffen die Motoren von DeepDrive eine sehr hohe Drehmomentdichte – und das bei niedrigem Verbrauch. Die Gewichtsersparnis kann laut Entwicklungspartner BMW je nach Motorgröße bis zu 150 Kilogramm betragen. Die Motoren könnten nämlich auch an gewohnter Stelle als Zentralantrieb im E-Auto eingesetzt werden.
Sowohl die In-Wheel- als auch die Central-Drive-Motoren von DeepDrive sind kostengünstiger und skalierbarer, da sie 50 Prozent weniger kritische Materialien (wie Magnete, Kupfer und laminierten Stahl) beinhalten, was zu Materialkosteneinsparungen von 200 Euro pro Motor führt. Auch durch die einfacheren Herstellungsprozesse sollen Systemkosteneinsparungen von über 1.000 Euro je Antriebseinheit möglich sein.
Blick in die Zukunft
Wenn wir einmal die Emotionen, Vorbehalte und technischen Traditionen außen vorlassen, dann spräche so einiges objektiv für den Radnabenantrieb. Kein Motorraum, keine Antriebswellen, kein Differenzial – einfach pure Kraft direkt am Rad. Effizienter, sparsamer, leiser, und dabei noch clever modular einsetzbar. Wenn man so will, sind Radnabenmotoren die elektrische Entfesselung des Autos: Jedes Rad kann individuell kontrolliert werden, und selbst engste Kurven oder ein Tank-Turn werden plötzlich zum Kinderspiel.
Mit solchen Systemen könnten Autos nicht nur schneller, sparsamer und wendiger werden, sondern auch viel flexibler in der Bauweise. Kleinwagen, Vans, Performance-Boliden – alles lässt sich auf modularen Plattformen realisieren, ohne dass Platz oder Reichweite leiden. Die DeepDrive-Prototypen zeigen schon heute, dass die Technik längst aus dem Labor herausgewachsen ist. Für potenzielle Automobilkunden dürfte aber vor allem eines entscheidend sein: Die Technik ist sogar deutlich günstiger als bisher.












