Manche Belange der Autotechnik sind komplexer, als man vielleicht erwartet. Gerade wer selbst schraubt, kennt ein paar Tätigkeiten, für die dann doch immer die Fachwerkstatt ranmuss. Das sind meistens Dinge, für die große und teure Spezialmaschinen nötig sind, die genaue Fahrwerkseinstellung zum Beispiel. Oder: das Auswuchten der Räder. Hier können scheinbar kleine Ungenauigkeiten im Bauteil große Auswirkungen auf Komfort, Sicherheit und Bauteillebensdauer haben. Um zu verstehen, warum dieser Arbeitsschritt unverzichtbar ist, muss man sich zunächst klarmachen, wie sich ein rotierendes Rad physikalisch verhält.
Ein Autorad besteht aus Reifen und Felge und stellt in Bewegung ein rotierendes Masse-System dar. Idealerweise wäre die Masse gleichmäßig um die Drehachse verteilt, sodass der Schwerpunkt exakt auf der geometrischen Rotationsachse liegt. In der Praxis ist das jedoch nie der Fall. Schon bei der Herstellung von Reifen und Felgen entstehen geringe Materialabweichungen. Der Reifen kann an einer Stelle minimal dicker sein, die Felge an einer anderen Stelle etwas mehr Material aufweisen. Zusätzlich kommen Einflüsse durch das Ventil, eventuelle Reparaturen oder ungleichmäßigen Verschleiß hinzu. All diese Faktoren führen dazu, dass der Schwerpunkt des Rades nicht exakt auf der Drehachse liegt.
Reifen sind wie Pizza. Nur anders.
Sobald sich das Rad dreht, wirkt auf jede Masse eine Zentrifugalkraft. Diese Kraft ist proportional zur Masse, zum Quadrat der Drehzahl und zum Radius der Rotation. Befindet sich nun an einer Stelle des Rades mehr Masse als an einer anderen, entsteht dort eine größere Zentrifugalkraft. Diese Kraft zieht das Rad bei jeder Umdrehung nach außen und erzeugt eine periodische Unwuchtkraft. Je schneller das Fahrzeug fährt, desto höher ist die Drehzahl der Räder und desto stärker wirken diese Kräfte. Während eine kleine Unwucht bei Schrittgeschwindigkeit kaum auffällt, kann sie bei Autobahntempo erhebliche Schwingungen verursachen. Das klingt zunächst arg theoretisch. Beobachten wir doch vor dem geistigen Auge mal einen Pizzabäcker, der gekonnt seine grob vorgeformten Teig-Rohlinge rotierend in die Luft wirft, und auf diese Weise erstaunlich runde Scheiben produziert – weil die Zentrifugalkraft den verformbaren Teig mit der Drehung nach außen zieht. Und weil ein Teigklumpen nie gleichmäßig ist, bleiben immer Imperfektionen bestehen. Auf dem Teller werden diese zum knusprigen Rand und am Auto zur fiesen Unwucht.

Ist ein Reifen auf der Felge an einer einzelnen Stelle minimal schwerer, entsteht eine Unwucht. Mit jeder Umdrehung strebt dieses Gewicht nach außen.
Diese Unwuchtkräfte werden über die Radnabe, die Radlager, die Aufhängung und letztlich über die Karosserie in das Fahrzeug eingeleitet. Bauteile, die eigentlich nur für statische Lasten und gleichmäßige rotierende Bewegungen ausgelegt sind, werden dadurch zyklisch belastet. Das führt nicht nur zu Komforteinbußen, sondern auch zu erhöhtem Verschleiß an Radlagern, Traggelenken, Spurstangenköpfen und Stoßdämpfern. Im Extremfall können sich Schraubverbindungen lösen oder Bauteile frühzeitig versagen. Das Auswuchten der Räder dient also nicht nur dem Fahrkomfort, sondern ist auch eine Maßnahme zum Schutz der gesamten Fahrwerkskonstruktion.
Was ist eigentlich eine Unwucht?
Beim Auswuchten unterscheidet man grundsätzlich zwischen statischer und dynamischer Unwucht. Eine statische Unwucht liegt vor, wenn der Schwerpunkt des Rades zwar außerhalb der Drehachse liegt, aber symmetrisch zur Mittelebene des Rades. In diesem Fall würde ein frei aufgehängtes Rad immer so stehenbleiben, dass die schwerste Stelle nach unten zeigt. Eine dynamische Unwucht entsteht, wenn die Massenverteilung zusätzlich seitlich versetzt ist, also links und rechts der Mittelebene unterschiedlich ausfällt. Dann treten kippende Bewegungen und seitliche Kräfte auf, die besonders bei breiten Rädern und höheren Geschwindigkeiten relevant sind. Moderne Fahrzeuge und Felgen erfordern deshalb fast immer ein dynamisches Auswuchten.

Die entstehenden Kräfte, die aus scheinbar kleinen Unwuchten resultieren, sind enorm. 500 Newton auf der Skala links entsprechen in etwa der Gewichtskraft von 51 Kilogramm – mehr als ein Zementsack, dessen Gewicht das Rad ständig aus der Mitte ziehen möchte.
In der Werkstatt erfolgt das Auswuchten mit einer elektronischen Radauswuchtmaschine. Zunächst wird das Rad zentriert auf die Welle der Maschine montiert. Dabei ist es entscheidend, geeignete Spannmittel zu verwenden, damit das Rad genauso zentrisch sitzt wie später auf der Radnabe des Fahrzeugs. Fehler beim Aufspannen würden zu falschen Messergebnissen führen. Anschließend werden Felgendaten wie Durchmesser, Breite und Einpresstiefe eingegeben oder automatisch erfasst. Diese Daten sind notwendig, damit die Maschine die gemessenen Unwuchtkräfte korrekt in Positionen und Massen für die Ausgleichsgewichte umrechnen kann. Beim Messlauf wird das Rad auf eine definierte Drehzahl beschleunigt. Sensoren erfassen dabei die auftretenden Schwingungen und Kräfte an der Welle. Aus diesen Messwerten berechnet die Elektronik, an welcher Stelle und in welcher Ebene Ausgleichsmasse angebracht werden muss, um den Schwerpunkt wieder auf die Drehachse zu verlagern. Physikalisch gesehen wird also gezielt Masse an der gegenüberliegenden Seite der Unwucht hinzugefügt, sodass sich die Zentrifugalkräfte gegenseitig aufheben. Als Ausgleichsgewichte kommen je nach Felgentyp Schlaggewichte für Stahlfelgen oder Klebegewichte für Leichtmetallfelgen zum Einsatz.

Schon beim Aufziehen neuer Reifen versucht man, möglichst genau die schwerste Stelle des Reifens ("Reifenberg") mit der leichtesten Stelle der Felge ("Felgental") zu matchen. So werden beim Auswuchten weniger Gewichte nötig.
Nach dem Anbringen der Gewichte wird ein Kontrolllauf durchgeführt. Ziel ist es, die verbleibende Unwucht unter die vom Hersteller vorgegebenen Toleranzen zu bringen. Eine vollständig perfekte Massenverteilung ist praktisch nicht erreichbar, aber die Restunwucht ist so gering, dass sie im Fahrbetrieb keine spürbaren Auswirkungen mehr hat. Wichtig ist auch, dass Räder immer in dem Zustand ausgewuchtet werden, in dem sie später gefahren werden, also inklusive Ventilkappe und gegebenenfalls Zentrierringen.

Das komplette Rad wird auf die Wuchtmaschine gespannt. Die dreht das Rad auf eine bestimmte Geschwindigkeit und zeigt dem Monteur dann die genaue stelle, auf die eine bestimmte Menge an Gewichten geklebt werden muss.
Wie fühlt sich eine Unwucht an?
Wie sich nicht ausgewuchtete Räder beim Fahren anfühlen, haben Sie vielleicht selbst schon erlebt. Typisch sind Vibrationen, die geschwindigkeitsabhängig auftreten. Häufig beginnt das Lenkrad zwischen etwa 80 und 120 km/h zu zittern, wobei die Intensität mit steigender Geschwindigkeit zunimmt. Bei Unwuchten an den Vorderrädern sind diese Schwingungen vor allem im Lenkrad spürbar, bei Unwuchten an den Hinterrädern eher im Sitz oder im Fahrzeugboden. Das Fahrzeug wirkt unruhig, der Geradeauslauf verschlechtert sich und der Fahrer muss ständig korrigierend eingreifen. Neben diesen direkten Wahrnehmungen gibt es auch indirekte Effekte. Durch die Schwingungen verliert der Reifen zeitweise den optimalen Kontakt zur Fahrbahn. Die Aufstandsfläche wird ungleichmäßig belastet, was zu Sägezahnbildung oder anderen Formen von ungleichmäßigem Reifenverschleiß führen kann. Dadurch verschlechtert sich nicht nur die Laufruhe weiter, sondern auch die Haftung, insbesondere beim Bremsen oder in Kurven. Der Bremsweg kann sich verlängern, und sicherheitsrelevante Assistenzsysteme wie ABS oder ESP arbeiten unter ungünstigeren Bedingungen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Auswuchten von Rädern ein klassisches Beispiel für angewandte Physik im Kfz-Bereich ist. Kleine Massenunterschiede, die im Stand kaum Bedeutung haben, entwickeln bei rotierender Bewegung erhebliche Kräfte. Durch das gezielte Hinzufügen von Ausgleichsgewichten wird die Massenverteilung optimiert, unerwünschte Schwingungen werden minimiert und sowohl Fahrkomfort als auch Bauteilschutz sichergestellt.
Muss ich die Räder bei jedem Wechsel neu wuchten lassen?
Hier spalten sich die Meinungen. Theoretisch lautet die Antwort nein, weil sich die Zusammensetzung aus Felge, Reifen und Ventil bis auf den rundum gleichmäßigen Abrieb nicht verändert. Wer in der Praxis niemals eine Vollbremsung macht, nie ein Schlagloch trifft und stets behutsam und schonend durch die Gegend rollt, wird über die Lebensdauer eines Reifens auch keine nennenswerten Wuchtunterschiede erzeugen. Das kann aber auch anders laufen. Rennstreckenbetrieb, große Hitze, z.B. bei häufigen Bremsungen aus sehr hohem Tempo, heftige Stöße oder sonstige Auto-Unbillen können mit der Zeit dafür sorgen, dass der Reifen eben doch im Millimeterbereich auf der Felge wandert. In Extremfällen kann dabei dann auch mal eine Unwucht entstehen. Wer als Auto-Feinschmecker tatsächlich saisonal wuchten lässt, kann erleben, dass es minimale Wuchtunterschiede gibt. Neben obengenannten Gründen können die allerdings auch auf Messunterschiede oder eine unterschiedliche Wuchtmaschine zurückzuführen sein. Konstruktionsbedingt gibt es außerdem Fahrzeuge, die empfindlicher als andere auf Unwuchten reagieren. Die können im Kleinwagen mit Simpel-Fahrwerk und hochwandigen Ballonreifen kaum zu spüren sein, in straff gefederten Premiumlimousinen mit hochwertigen Fahrwerken dafür umso früher. Ein typisches Beispiel sind große BMW-Modelle, die häufig mit Reifen mit Notlaufeigenschaften ausgeliefert wurden. Die sind besonders schwer, wodurch sich die rotierende Masse erhöht und somit auch die physikalische Kraft einer eventuellen Unwucht. Die kurze Frage auf die Antwort lautet: Es muss nicht jedes Jahr sein, schadet aber auch nicht – gerade im Verdachtsfall.





