Erst fahren, dann urteilen. Daher lassen wir jetzt erst einmal den Mercedes- AMG GT 63 Pro 4Matic+ der aktuellen C-192-Baureihe mit guter Lenkpräzision in die Sabine-Schmitz-Kurve stechen und dann den Hatzenbachbogen mit beeindruckenden 167 km/h Minimumspeed abfrühstücken. Was heute mit einem motivierten Nordschleifen-Auftakt beginnt, endet im Ziel mit einer langsameren Rundenzeit als bei GT R und GT R Pro der Vorgänger-Baureihe C 190. Dieser Supertest klärt, warum es so kommen musste, wie es gekommen ist.
Für die Rundenzeiten-Fans fange ich direkt einmal mit den nackten Zahlen an: Der GT 63 Pro 4Matic+ legt heute eine Rundenzeit von exakt 7.14,74 Minuten hin. Die bekannten C-190-Vorläufer GT R und GT R Pro umrundeten die Nordschleife im Supertest in 7.10,92 Minuten und respektive 7.06,60 Minuten.
Mit den C-190-Helden GT R, GT R Pro und spätestens mit dem GT Black Series ordnete Mercedes-AMG von 2016 bis 2021 die Machtverhältnisse auf der Nordschleife neu. Aus den Jägern wurden die Gejagten. AMG stand plötzlich da, wo sie immer hinwollten – vor Porsche. Die Nordschleifen-Könige kamen fortan aus Affalterbach und nicht mehr aus Weissach-Flacht.
285 kg schwerer als der Vorgänger
So viel zum Status quo, bevor es jetzt um den aktuellen Mercedes-AMG GT 63 Pro 4Matic+ geht. Wenn ein neues Modell querdynamisch langsamer ist als seine Vorgänger, gibt es zwei Möglichkeiten, wie man einen Supertest verfasst: Entweder man zerreißt das Fahrzeug textlich förmlich in der Luft, oder man arbeitet Pro und Contra so sachlich wie möglich auf.
Ich entscheide mich heute für die zweite Variante, denn im Falle des AMG GT 63 Pro 4Matic+ haben sämtliche Entwickler alles gegeben, die – aus sportlicher Sicht – konzeptionelle Fehlentscheidung des oberen Managements beziehungsweise des damaligen AMG-Vorstands so gut wie möglich zu kaschieren. Am Können der AMG-Fahrdynamiker liegt es definitiv nicht, sondern am Dürfen.

Der Hauptteil des Mehrgewichts entfällt mit rund 140 kg auf das neue Chassis inklusive Fronthaube, Heckdeckel und Verglasung. Mehrgewicht brachte chassisseitig auch die Vorbereitung für elektrifizierte Varianten ein.
Vermutlich hätte die aktuelle AMG-Führung heute anders entschieden. Aus querdynamischer Sicht ist die Entscheidung der Zwei-Modell-Strategie auf einer Plattform unverständlich angesichts des sportlichen Heldenstatus, den der AMG GT sich erarbeitet hatte. Bekanntermaßen teilen sich aktuell der SL und der GT eine Plattform. Während der SL durch die AMG-Entwicklung fahrdynamisch profitiert, büßt der GT von seinem rennstreckenfokussierten Charakter ein. Bezeichnend: Das neue GT3-Rennfahrzeug von Mercedes entsteht nicht auf der aktuellen GT-Basis.
Frontlastige Gewichtsverteilung ohne Transaxle
Größtes Manko des AMG GT 63 Pro 4Matic+ ist sein hohes Gewicht von 1.932 Kilogramm. Damit ist er 275 kg respektive 285 kg schwerer als GT R (1.657 kg) und GT R Pro (1.647 kg) aus der C-190-Baureihe.
Das Mehrgewicht ist das eine Thema, die neue Gewichtsverteilung das andere Thema. Während die beiden C-190-Modelle mit einer nahezu ausgeglichenen Gewichtsverteilung von 48,1 zu 51,9 Prozent (GT R) beziehungsweise 48,4 zu 51,6 Prozent (GT R Pro) an den Start gingen, verlagert sich die Gewichtsverteilung beim C-192-GT-63-Pro deutlich nach vorne (54,2 zu 45,8 Prozent). Kein Wunder, das aktuelle Modell verzichtet auf die Transaxle-Architektur des Vorgängers.

Die Lösung, um Alltagskomfort und Sportlichkeit auf der Rennstrecke gleichermaßen abbilden zu können, nennt sich im AMG-Dialekt „AMG Active Ride Control Fahrwerk mit aktiver Wankstabilisierung“.
Warum ist der GT 63 Pro 4Matic+ eigentlich so viel schwerer als seine Vorgänger? Den ersten Verweis darauf findet man bereits im Namenskürzel "4Matic+". Den aktuellen GT 63 Pro gibt’s ausschließlich mit Allradantrieb. Das Extragewicht durch den Allrad liegt bei rund 45 kg.
Im Vergleich zum C-190-GT-R ist der C-192-GT-63-Pro zudem größer (17,7 cm länger, 4,5 cm breiter und 7 cm höher). Der Hauptteil des Mehrgewichts entfällt mit rund 140 kg auf das neue Chassis inklusive Fronthaube, Heckdeckel und Verglasung. Mehrgewicht brachte chassisseitig auch die Vorbereitung für elektrifizierte Varianten ein. Zusätzliche 20 kg entfallen auf Räder, Reifen und Achsen. Der Rest der Extrapfunde versteckt sich in Motor, der längeren Abgasanlage und Ausstattungsfeatures.
Hoher Grip kaschiert die Masse
Zahlenwerte sind das eine, die subjektive Wahrnehmung das andere. Im Grenzbereich auf der Nordschleife und auf dem GP-Kurs von Hockenheim fühlt sich der GT 63 Pro bis zu einem gewissen Punkt gar nicht so schwer an, wie er es in Wirklichkeit ist. Vor allem in Kombination mit dem optionalen Michelin Pilot Sport Cup 2 R punktet das Fahrzeug mit ähnlich hohen oder teils höheren Verzögerungswerten auf der Rennstrecke als die Vorgänger. Die Cup-2-R-Schlappen mit slickähnlichem Gripniveau kosten übrigens keinen Aufpreis. Daumen hoch, so etwas findet sich selten.

In Kombi mit den gripgewaltigen Michelin Pilot Sport Cup 2 R punktet der GT 63 Pro teils mit höheren Verzögerungswerten als die GT-R-Vorgänger der C-190-Baureihe.
Für die ABS-Abstimmung gibt es ein Extralob. Dank feiner Regelung legt der GT 63 Pro bei der Standbremsmessung aus 100 km/h auf null mit einem Bremsweg von nur 30,0 Metern bessere Werte hin als die Vorgänger (GT R: 31,8 m; GT R Pro: 30,7 m). Beim Anbremsen auf der Rennstrecke kann der GT 63 Pro dann seine Masse irgendwann aber nicht mehr verheimlichen. Trotz seines hohen Gewichts legt er zwar erstaunlich späte Bremspunkte hin, ganz so spät wie mit den Vorgängern kann man aber nicht in die Kurve reinbremsen. Die dynamische Radlastverteilung ist beim GT 63 Pro mit Nickbewegungen der Karosserie um die Querachse beim Anbremsen stärker spürbar als bei den besagten Vorgänger-Modellen.
Anbremsen abgehakt, wie sieht’s mit Einlenken und Herausbeschleunigen aus? Auch Lenkpräzision und Traktion kann der GT 63 Pro erstaunlich gut – immer in Relation zu den fast zwei Tonnen gesehen. Turn 2 in Hockenheim (Bernie Ecclestone Kurve) ist dafür nur ein Beispiel. Nach dem präzisen Einlenken geht’s früh ans Gas, um möglichst viel Speed mit auf die Parabolika zu nehmen. Dabei drückt der GT 63 Pro beim Herausbeschleunigen leicht leistungsübersteuernd mit dem Heck. Die Mischung aus Agilität und Schnelligkeit passt. Ein ähnliches Fahrverhalten präsentiert er beim Herausbeschleunigen aus dem Streckenabschnitt Wehrseifen auf der Nordschleife.
Trickreiche Wankstabilisierung
Auch für das sportliche Systemzusammenspiel von Allrad, E-Diff und Hinterachslenkung im Race-Mode geht daher ein Lob an die Fahrdynamikentwicklung raus. Im Race-Mode ist das Fahrverhalten prinzipiell agiler und heckbetonter ausgelegt als beispielsweise im Comfort-Modus. Mit dem variablen Allradantrieb konnte auf die per Drehregler aus dem Cockpit 9-stufig einstellbare Traktionskontrolle verzichtet werden – ein Feature, das ich bei AMG sehr geschätzt habe, da es das gewisse Etwas für den ambitionierten Sportfahrer geboten hat.

Lenkpräzision und Traktion kann der GT 63 Pro erstaunlich gut – immer in Relation zu den fast zwei Tonnen gesehen.
Die Fahrdynamikentwickler standen nicht nur vor der Herausforderung, dass sie dem GT 63 Pro trotz hohem Mehrgewicht eine adäquate Querdynamik antrainieren sollten, sondern gleichzeitig auch eine größere Spreizung zwischen Komfort und Sport realisieren mussten. Doch wie konnte dieser Kompromiss zwischen den zwei unterschiedlichen Welten gelingen?
Mit dem manuell einstellbaren KW-Gewindefahrwerk, den einstellbaren Stabis und den Uniball-Gelenklagern des GT R Pro aus der Vorgängerbaureihe leider nicht. Die Lösung, um Alltagskomfort und Sportlichkeit auf der Rennstrecke gleichermaßen abbilden zu können, nennt sich im AMG-Dialekt "AMG Active Ride Control Fahrwerk mit aktiver Wankstabilisierung".

Fahrwerk mit Wankstabilisierung: Aktive Hydraulikelemente mit zwei Hydraulikanschlüssen an jedem Adaptivdämpfer statt konventioneller Stabis.
Wie die Wankstabilisierung funktioniert? Aktive Hydraulikelemente ersetzen die konventionellen Drehstab-Querstabilisatoren. Jeder der vier Adaptivstoßdämpfer trägt je zwei Hydraulikanschlüsse – einen an der Druckseite des Dämpfers, der andere an der Zugseite. Die Druck- beziehungsweise Zugseiten der einzelnen Dämpfer sind miteinander verschaltet. Je höher der Systemdruck, desto höher die Wanksteifigkeit. Das hydraulische System arbeitet wie ein variabler Stabi – von null bis steif ist quasi alles möglich.
Mehr Performance bitte wieder
Wenn der GT 63 Pro sich im Geradeauslauf befindet, fährt er quasi wie ein Fahrzeug ohne Stabis und bietet einen erstaunlich hohen Fahrkomfort für seine Fahrzeugklasse. Bestes Beispiel ist eine Vmax-Fahrt auf einer schnurgeraden Autobahn. Selten bin ich so entspannt mit 317 km/h (laut Tacho 323 km/h) Highspeed gefahren.
Sobald Lenkwinkel und damit Querbeschleunigung aufgebaut wird, schließen die Komfortventile an jedem Dämpfer und der Systemdruck wird automatisch erhöht. Über diesen Druck wird der maximale Wankwinkel bestimmt. Über die drei Fahrwerkmodi "Comfort", "Sport" sowie "Sport+" kann der Basissystemdruck (Comfort: 21 bar, Sport: 30 bar, Sport+: 36 bar) und damit auch der Spitzendruck bei maximaler Querbeschleunigung (Comfort: 70 bar, Sport: 90 bar, Sport+: 100 bar) aus dem Cockpit variiert werden.

Der bekannte V8-Biturbo mit dem internen Motorcode „M 177 DE 40 AL“ leistet mit 612 PS in der Pro-Version 27 PS mehr als im normalen GT 63. Der Vierliter begeistert mit Durchzug in allen Lebenslagen.
Auf der Nordschleife und in Hockenheim wird im Dämpfer-Modus "Sport+" gefahren. Im Vergleich zu den beiden konventionellen Stabis wiegt das Hydrauliksystem zwar acht Kilogramm mehr, soll jedoch trotzdem Performance-Vorteile bieten. O-Ton aus der AMG-Fahrdynamikentwicklung: "Was die Radlastverteilung angeht, hat man jetzt eine bessere Radlastverteilung als mit konventionellen Stabis. Deswegen hat das Fahrzeug auch eine extreme Traktion."
Kann ich bestätigen, der mechanische Grip ist für ein Fahrzeug dieser Gewichtsklasse erstaunlich hoch. Die Rollbewegungen um die Längsachse sind auch in schnellen Kurven auf der Nordschleife verblüffend gering. Die Kombination aus performantem Allradsystem, der Wankstabilisierung und der Cup-2-R-Bereifung ist der Schlüssel zum Erfolg, dass dem GT 63 Pro trotz seiner fast zwei Tonnen überhaupt noch so eine schnelle Nordschleifen-Zeit gelingt.
Kurvenspeed unter den Erwartungen
Insgesamt liegen die Kurvenspeeds aber immer unter denen der C-190-Vorgänger GT R und GT R Pro. Ein Beispiel für einen Streckenabschnitt, an dem das hohe Gewicht des GT 63 Pro 4Matic+ trotz aller Fahrwerksraffinesse nicht mehr wegdiskutiert werden kann, ist die Fuchsröhre. Es bleibt einfach unvergessen, wie sich der C-190-GT-R-Pro mit 271 km/h ohne den kleinsten Gaspedallupfer in die schönste Kompression der Welt gestürzt hat. Im GT 63 Pro geht die Fuchsröhre bei Weitem nicht mehr voll, sondern es muss am Ende des rechten Curbs recht weit vor der Kompression bereits von Voll- auf Schleppgas gewechselt werden. Ergebnis: Hier fehlen 11 km/h auf den GT R Pro.

Mit 260 km/h ist der GT 63 Pro in der Fuchsröhre 11 km/h langsamer als der GT R Pro.
Mir fehlt noch etwas, was ich in den Vorgängermodellen beim Rennstreckenbesuch sehr geschätzt habe: eine vernünftige Sitzposition zum schnellen Fahren im Grenzbereich. Die sogenannten AMG Performance Sitze sind für Ausfahrten im Alltag und längere Etappen auf der Autobahn zwar sehr bequem, am Limit auf der Nordschleife und in Hockenheim sitzt man in ihnen aber zu hoch und wünscht sich auch mehr Seitenhalt.
Sitzposition als unterschätzter Zeitfaktor
Unverständlich, warum AMG nicht weiterhin optional den Recaro-Pole-Position-Vollschalensitz mit GFK-Sitzschale anbietet. Dieser hat in den GT-R-Vorgängern nicht nur eine hervorragende Sitzposition am Limit beschert, sondern auch noch 12 kg Gewicht eingespart. Und Gewichtsreduktion sollte doch beim C 192 nun oberste Priorität genießen.

Auch Serie beim Pro: aktives Aero-Profil im Unterboden, aktives Luftregelsystem „Airpanel“ in der Frontschürze und starrer Heckflügel.
Das Bittere: Besagter Sitz steht quasi im AMG-Regal und wurde auch bei den AMG-internen Abstimmungsfahrten des C 192 von den Entwicklern genutzt. Aus unverständlichen Gründen fand er nicht wieder den Weg in die Serienproduktion. Beim Supertest habe ich so lange gejammert, bis sie mir den Recaro-Sitz eingebaut haben. Allein über den Wohlfühlfaktor "Sitzposition" holst du auf der Nordschleife gefühlt drei Sekunden.
Auch wenn das jetzt kein Jubel-Supertest à la GT R, GT R Pro und GT Black Series aus der C-190-Baureihe war, hilft es vielleicht, die Stellschrauben in Zukunft wieder mehr in Richtung Nordschleifen-Performance zu drehen. Dass AMG Nordschleife kann, steht auch weiterhin außer Frage. Nicht ohne Grund steht auf der Supertest-Pole-Position in Hockenheim und auf der Nordschleife immer noch der GT Black Series.







