Kia EV9 vs. Nio EL6 im Test: SUV-Duell im der Schwergewichtsklasse

Kia EV9 & Nio EL6 im Test
Asiatisches Duell in der SUV-Schwergewichtsklasse

Veröffentlicht am 28.12.2024

In letzter Zeit entsteht der Eindruck, dass China unseren Elektroautomarkt überflutet. Einerseits stimmt das: Aiways, BYD, GWM (Ora), Lotus, MG, Nio, Polestar, Smart, Vinfast und XPeng bieten in Deutschland insgesamt gut 20 E-Modelle an. Andererseits zeigt die Zulassungsstatistik von Januar bis Juli 2024, dass von den 214.887 Elektroautos nur grob zehn Prozent auf die genannten Marken entfallen – und die Hälfte davon geht auf das Konto des MG 4, ein Viertel auf das von Smart #1 und #3.

Trotz koreanischer Beteiligung weisen die Statistiken auch diesen Vergleichstest als Duell zweier Nischenmodelle aus: Seit ihren Marktstarts im letzten Jahr wurden 109 Nio EL6 und 1.289 Kia EV9 zugelassen. Sicher begründet auch das Preissegment die niedrigen Zahlen, schließlich kostet der Kia mit dem getesteten Antriebsstrang ab 76.490 Euro, der Nio 74.500 Euro. Ihre Antriebe bestehen jeweils aus einem Motor pro Achse. Der EL6 speichert etwas weniger Strom als der EV9 (100 kWh brutto statt 100 kWh netto), dafür übertrifft er ihn mit 490 zu 385 System-PS.

Akkutausch statt Ladesäule

Viele Elektro-PS gibt’s fast überall, ein Netz von Akkutauschstationen aber nur bei Nio. Aktuell sind 17 in Betrieb, wir steuern die in Ulm-Seligweiler an. Wartezeiten bleiben vor Ort aus, da sich die 1.528 anderen Nio, die seit 2023 registriert worden sind, offenbar woanders aufhalten. Der Tausch läuft in gut fünf Minuten automatisiert und problemlos ab.

Um diese Stationen nutzen zu dürfen, muss der Akku gemietet statt gekauft sein. Am Beispiel der Long-Range-Batterie entfallen 21.000 Euro vom Kaufpreis, stattdessen kostet das Abo monatlich 289 Euro. Darin enthalten sind die beiden ersten Tauschvorgänge, die folgenden kosten je zehn Euro. Hinzu kommen 39 Cent pro kWh, wobei der im ausgebauten Akku verbliebene Strom angerechnet wird. Da aktuell zwei Akkugenerationen im Umlauf sind (siehe Spotlight), bestimmt das Glück, ob beim Tausch eine der neuen Batterien mit kürzeren Ladezeiten installiert wird.

Verbesserte Assistenz

Seit unserem ersten Test eines Nio EL6 hat sich nicht nur die Akkutechnik weiterentwickelt. Mittlerweile funktioniert auch die aktive Spurführung auf kurvigen Autobahnabschnitten ziemlich ordentlich. Gefühlt nervt der Aufmerksamkeitsassistent auch lange nicht mehr so wie einst. Weiterhin nutzlos: die Verkehrszeichenerkennung. Die erfasst häufig Humbug und ignoriert digitale Temposchilder zuverlässig. Dementsprechend oft nervt das Gepiepse beim Überschreiten des Limits; wenigstens klappt das Abschalten zügiger als im Kia EV9.

Der Koreaner beschleunigt reichlich schnell, doch der Nio EL6 zieht mindestens eine Nummer stärker durch. Dabei zeigt er keine Ermüdungserscheinungen, in sechs aufeinanderfolgenden Läufen bleiben die Sprintwerte von 0 auf 200 km/h fast gleich. Im Normalmodus jedoch drosselt der Nio den Vortrieb – nicht dramatisch, nur liegt der große Komfort ja darin, die hohe Agilität der Sport-Plus-Stellung bei Bedarf trittbereit zu haben (Individualmodus existiert).

Ausgewählt wird der Fahrmodus über eine der wenigen Tasten. Ansonsten läuft selbst die Justierung der Luftdüsen über den Touchscreen, den du auch bemühen musst, um dann per Lenkradtasten Außenspiegel und Lenksäule einzustellen. Immerhin verkürzt das stets nur eine Wischgeste entfernte Favoritenmenü viele Bedienwege. Doch wenn du dort versehentlich auf den Scheinwerfer-Button klickst, geht das Licht selbst bei Nacht und in voller Fahrt sofort aus – ohne Wollen-Sie-wirklich-Rückfrage.

Im Matrixmodus schneiden die Scheinwerfer andere Verkehrsteilnehmer oft eher grob aus, noch dazu stören dunklere Streifen den ansonsten ordentlichen Lichtkegel. Die Adaptivfunktion des Kia arbeitet sorgfältiger – insgesamt anständig, jedoch auch nicht auf höchstem Niveau.

Kia EV9 kurvt dynamischer

Noch wichtiger: Der Kia EV9, 245 Kilo schwerer und 16 Zentimeter länger als sein Rivale, erzielt in sportlich gefahrenen Kurven die höhere Fahrstabilität. Er wankt zwar ebenso wie der EL6 mittelstark, doch er folgt Lenkbefehlen zügiger und präziser. Zudem drängt er in spitzen Ecken weniger stark nach außen, und sein ESP reagiert früher. Mit größerer Distanz zum Limit kurven beide SUV entspannt. Das passt, denn richtigen Handlingspaß liefert hier eh keiner.

Gleichwertig sind sie bei der Energieeffizienz: 27,7 kWh/100 km der EV9, zwei Zehntel mehr der Nio EL6. Beide zeigen damit eine Verbesserung zu früheren Tests, die bei niedrigeren Außentemperaturen stattfanden. Die Testreichweiten: 389 zu 344 km für den Kia, dessen Akku schneller lädt (siehe Spotlight nebenan).

Neben der Ladetechnik setzt die Marke der Hyundai-Gruppe auch die Rekuperationsmodi gründlicher um. Von ihnen hält der Koreaner zahlreiche vor, sie sind sauber abgestimmt und lassen sich mit den Lenkradwippen anwählen. Im Nio wählst du nach Drücken einer Taste auf dem Touchscreen eine von drei Stufen aus, wobei ein Einpedalmodus fehlt. Innerorts rekuperiert selbst die höchste Stufe wenig kraftvoll, außerorts stärker, jedoch immer deutlich verzögert zur Fahrpedalbewegung.

Im Kia EV9 klappt die Bedienung generell einfacher, weil es mehr Tasten gibt und die Toucheingaben deshalb weniger stark dominieren. Zu diesem modernen Komfortaspekt gesellen sich klassische Stärken, etwa die besser konturierten, sogar in der Lehnenbreite einstellbaren Sitze vorn. Auch in der Reihe dahinter übertrifft der EV9 den (dort recht guten) Sitzkomfort des EL6. Zudem montiert nur Kia zwei kindertaugliche Sitze im Heck, hinter ihnen bleibt nur noch Platz für Ausflugsgepäck. Mit fünf Sitzen jedoch ist der Kofferraum riesig, viel größer als jener des Nio EL6.

Und die Fahrwerke? Beide kombinieren Stahlfedern mit Adaptivdämpfern. Der Nio federt meist recht sanft und etwas weicher als der stößigere Kia, der seine Karosserie ruhiger hält.

Frunk, Steckdose, Massage

Im Kia steckt zudem viel Funktionalität – etwa ein Frunk, eine Haushaltssteckdose, eine Massagefunktion im Fahrersitz und ein Adapter, mit dem man auch am Ladeanschluss mit 230 Volt zapfen kann. EL6-exklusiv sind dagegen die Massage auf vier Sitzen, die Klimabeduftung und eine integrierte Dashcam-Software. Allerdings verzichtet Nio auf Apple CarPlay und Android Auto.

Beide Hersteller bauen scharf auflösende Head-up-Displays ein, belüften optional auch die äußeren Rückbankplätze und zeigen beim Blinken Totwinkelkamerabilder. Je nach Position überdeckt das Kia-Lenkrad einen Teil davon. Im Nio EL6 zeigt sie der Touchscreen, weshalb die Funktion ihren sonst hohen Wert beim Linksabbiegen wegen der großen Distanz zum Außenspiegel stark einbüßt.

Im Euro-NCAP-Sicherheitstest erreichen beide SUV fünf von fünf Sternen. In einem Kernkriterium, dem Schutz erwachsener Insassen, übertrifft der Chinese den Koreaner mit Bewertungen von 93 zu 84 Prozent. Aber damit wird sich Nio wohl kaum aus seiner kleinen Zulassungsnische herausarbeiten können.

Technische Daten
Kia EV9 GT-LineNio EL6
Grundpreis82.380 €74.500 €
Außenmaße5015 x 1980 x 1780 mm4854 x 1995 x 1703 mm
Kofferraumvolumen385 bis 2370 l579 bis 1430 l
Höchstgeschwindigkeit200 km/h200 km/h
0-100 km/h5,2 s4,4 s
Verbrauch0,0 kWh/100 km0,0 kWh/100 km
Testverbrauch27,7 kWh/100 km27,9 kWh/100 km