Nach 18 Stunden und 20 Minuten kam es beim 24h-Rennen am Nürburgring zur entscheidenden Szene. Manthey-Pilot Kévin Estre lief mit dem führenden Porsche 911 GT3 R im engen Abschnitt Kallenhard auf den langsameren Aston Martin Vantage GT4 von Dörr Motorsport auf. Im Rückspiegel des neongelben Elfers machte sich Raffaele Marciello mit seinem BMW M4 GT3 von Rowe Racing breit und lauerte auf einen Fehler.
Für Estre ging es darum, dem Verfolger keine Chance zum Angriff zu bieten und gleichzeitig so wenig Zeit wie möglich beim Überrunden zu verlieren. Doch als der Franzose innen reinstechen wollte, um am Aston Martin vorbeizugehen, kam es zum Kontakt. Der Porsche schob seinen Vordermann links in die Leitplanke. Rolf Scheibner, der Pilot des Astons mit der Startnummer 179, hatte keine Chance, sein entgleistes Fahrzeug wieder einzufangen. Er überschlug sich und blieb auf dem Dach liegen.
Die Rennleitung untersuchte den Unfall. Nach Befragung der Beteiligten und dem Sichten aller Bilder wurde eine Zeitstrafe von 100 Sekunden gegen den Porsche ausgesprochen. Sie entschied das Rennen zu Gunsten des Rowe-BMW, der auf der Strecke nur als Zweiter über die Ziellinie gerollt war. Auch eine eilig beantragte Berufung des Manthey-Teams konnte an dem Urteil nichts mehr ändern.

Crashpilot Kévin Estre (rechts) war sich keiner Schuld bewusst.
Strafe aus Estres Sicht ungerechtfertigt
Estre zeigte sich in der Pressekonferenz nach dem Rennen enttäuscht über die Strafe. Er schilderte die entscheidende Szene noch einmal aus seiner Perspektive: "Wir sind auf Verkehr aufgelaufen und das GT4-Auto vor mir hat drei Mal blaue Flaggen gezeigt bekommen. In der Dreifach-Rechts hat er innen die Tür offengelassen. Ich bin reingestochen, aber dann hat er eingelenkt, wodurch der Platz ausging."
Laut Estre war der Unfall in diesem Moment nicht mehr zu verhindern: "Ich habe ihn gesehen und habe voll gebremst. Ich war schon komplett auf dem Randstein. Ich konnte nirgendwo mehr hin. Er dagegen hatte links noch jede Menge Platz. Er hat mich wohl nicht gesehen oder dachte, dass ich noch weiter weg war. Natürlich bin ich froh, dass ihm nichts passiert ist."
Estre sah aber keinen Grund, sich zu entschuldigen: "Solche Szenen erleben wir jede Menge im Rennen. Wenn ich ehrlich bin, würde ich beim nächsten Mal wieder so handeln. Für mich war da nichts falsch. Es war einfach ein Rennunfall. Natürlich braucht es für sowas immer zwei. Aber ich war innen. Da war Platz. Und er hat die Tür zugeschmissen. Mein Vorderrad hat seine Tür getroffen. Ich lag also schon komplett neben ihm."

Zu überrundende Fahrzeuge sollen auf dem Nürburgring auf der Ideallinie bleiben.
Blaue Flaggen ignoriert?
Auf den Tribünen und in den sozialen Netzwerken entbrannte auch sofort eine hitzige Diskussion über die Schuldfrage und die ausgesprochene Strafe. Wie Estre selbst auch, führten die meisten Fans bei der Verteidigung des Porsche-Piloten die blauen Flaggen als Argument an. Doch so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint, war die Sachlage nicht.
Im Gegensatz zur Formel 1, wo überrundete Piloten bei blauen Flaggen Gas rausnehmen und neben die Ideallinie fahren müssen, gelten beim sogenannten "Multi-Class-Racing" im Langstreckensport ganz andere Regeln. Die blauen Flaggen sind hier eher als Hinweis gedacht, dass sich von hinten ein schnelleres Fahrzeug nähert. Konsequenzen hat ein Ignorieren der Flaggen keine.
Statt die Ideallinie hektisch zu verlassen und zu verlangsamen, werden die Piloten in den Lehrgängen für die Nordschleifen-Permit stets angewiesen, weiter auf der normalen Rennlinie zu bleiben, um für den folgenden Verkehr berechenbar zu sein. Die Verantwortung liegt dann bei den schnelleren Fahrzeugen, den Überholvorgang sicher abzuschließen.

Die Rennleitung griff bei der diesjährigen Ausgabe des 24h-Rennens am Nürburgring hart durch.
Rennleitung setzt Zeichen am Ring
Auch der Vorwurf von Estre, dass sein Unfallgegner plötzlich die Tür zugeschmissen habe, kann nicht als Entschuldigung geltend gemacht werden. Die Dreifach-Rechts trägt bei den Piloten auch den Beinamen "Miss-Hit-Miss". Der Name weist schon darauf hin, dass man im ersten und letzten Teil absichtlich etwas Abstand zum Scheitel lässt. Mit der weiteren Linie lässt sich mehr Schwung durch die Kehre nehmen.
Der Aston Martin vollzog also kein unvorhersehbares Manöver, als er unsanft aus der Bahn geschossen wurde. Natürlich fahren langsamere Piloten auch mal freiwillig zur Seite, um den schnelleren Fahrzeugen das Leben leichter zu machen und heikle Situationen zu vermeiden. Dabei wird gerne auch mal der Blinker gesetzt, damit keine Missverständnisse aufkommen. Aber eine Verpflichtung dazu gibt es nicht.
Bleibt die Situation unklar, muss der Hintermann notfalls auf die Bremse steigen, was natürlich immer mit einem Zeitverlust verbunden ist. Die Rennleitung wollte mit ihrem Urteil wohl auch ein Zeichen für mehr Sicherheit setzen. Beschweren darf sich Estre also nicht über die Strafe.
Für die Fans war es natürlich schade, dass das Urteil etwas die Spannung in den letzten Stunden rausnahm. Einige waren der Meinung, dass es eine kürzere Zeitstrafe auch getan hätte. Doch bei einem ähnlichen Fall früher im Rennen wurde ebenfalls eine 100-Sekunden-Strafe für einen GT3-Fahrer ausgesprochen. Damit alle Piloten wissen, wo sie dran sind, ist es wichtig, dass die Schiedsrichter bei ihren Urteilen stets das gleiche Strafmaß ansetzen.