Der Verkehrssektor hinkt seinen Nachhaltigkeitszielen hinterher. Hauptproblemfeld: der Straßenverkehr. CO₂-Einsparungen sind hier kaum zu verzeichnen. Weil wir nicht genug E-Autos auf die Straße bringen, sagen Kritiker. Deren Kritiker sagen wiederum: Elektroautos emittieren viel mehr CO₂ bei der Produktion. Der sogenannte CO₂-Rucksack lässt sie an der Nachhaltigkeit von E-Autos zweifeln. Auch wenn Studien belegen, dass E-Autos selbst in ungünstigen Konstellationen ihre bei der Produktion anfallenden Treibhausgasemissionen nach wenigen 10.000 Kilometern wieder eingespart haben. BMW etwa hat ausgerechnet, dass der CO₂‑Fußabdruck des iX3 (50 xDrive), betrieben im europäischen Strommix, bereits nach rund 22.000 Kilometern geringer ist als der des erheblich schwächeren Verbrenner-Modells (X3 20 xDrive). Mercedes nennt für den CLA 250+ EQ 60 Prozent höhere CO₂-Emissionen (10.5 Tonnen) bei der Herstellung als für den CLA 180 mit Verbrenner (6,5 Tonnen). Dieser Mehraufwand amortisiert sich nach etwa 41.000 km, wenn der EU-Strommix zum Laden des CLA 250+ eingesetzt wird.
Bei der Produktion lässt sich viel CO₂ einsparen
Die Autohersteller gehen das CO₂-Problem längst auf verschiedenen Ebenen an. So auch Mercedes-Benz: Ein breites Portfolio an Autos, die rein elektrisch fahren? Hat Mercedes, klar. Clevere und emissionsarme Plug-in-Hybride? Hat Mercedes, sogar mit Dieselmotor. Aber ein Auto, das in der Produktion konsequent CO₂ spart und dessen Komponenten sich am Ende seines Lebens zu 100 Prozent wiederverwenden lassen? Das haben sie nicht in Stuttgart, das hat kein Hersteller auf der ganzen Welt.
Nachhaltigkeit, Recycling, CO₂-Fußabdruck – diese Themen untersucht Mercedes-Benz in seinem Technologie-Programm Tomorrow XX. Hier werden aus alten Reifen Sitzbezüge, und aus Airbags entstehen Ventilgehäuse. Vor etwa zwei Jahren haben die Schwaben das Programm gestartet. Es ist hochkomplex und sein Ansatz umfassend. Er bezieht jedes einzelne von Tausenden Bestandteilen im Auto ein – sein Vorleben auf der Rohstoffebene sowie sein Nachleben beim Recycling. Im Dezember 2025 präsentieren die Schwaben erste Ergebnisse.
Zwei Drittel weniger CO₂‑Emissionen beim neuen GLC
Fragestellungen des Programms waren etwa: Welche Bauteile müssen wir auf welche Weise neu konstruieren, damit sie sich einfach ausbauen, reparieren und recyceln lassen? Und, einen entscheidenden Schritt zurück: Welche Materialien müssen wir verändern, neu kombinieren oder ersetzen, um CO₂-Emissionen zu reduzieren und den Ressourcenverbrauch zu verringern? Last but not least: Welche Primärstoffe können wir durch Rezyklate ersetzen?
Das Programm Tomorrow XX ist interdisziplinär angelegt, über die Abteilungen und Ressorts des Hauses hinweg. Zudem arbeitet Mercedes-Benz mit externen Partnern zusammen, vom Start-up bis zum großen Stahllieferanten. Die aktuelle Zwischenbilanz listet mehr als 40 Projekte auf, die bereits realisiert wurden oder großes Potenzial erkennen lassen. "Wir denken buchstäblich jedes Bauteil neu", erklärt Jörg Burzer, seit Kurzem Vorstand für Entwicklung und Einkauf der Mercedes-Benz Group. "Am Beispiel des neuen elektrischen GLC sieht man, dass wir den CO₂-Fußabdruck bereits um zwei Drittel senken konnten. Das ist schon richtig viel!", sagt Burzer im Interview mit auto motor und sport.
Alle Details lösen das Problem im Ganzen
Wenn man einen kleinen Streifzug durch das Auto unternimmt, wird klar, wohin die Reise geht. Wir beginnen ganz vorn, bei den Scheinwerfern. Schon vor Jahren hat sich die Praxis durchgesetzt, ihre großen Bestandteile – Abdeckscheibe, -blende und -rahmen, Gehäuse und Elektronikplatine – miteinander zu verkleben. Das geht schnell und ist sicher, macht aber das Recycling fast unmöglich. Ersetzt man jedoch die Klebenähte durch Schrauben und Muttern, werden die Scheinwerfer kreislauffähig, und noch dazu lassen sie sich bei Bedarf einfacher und preiswerter reparieren.
Weiter durchs Auto, in den Motorraum. Das Ventilgehäuse für das Thermomanagement ist ein Bauteil, das Drücke bis 5 bar und Temperaturen von minus 40 bis plus 130 Grad Celsius aushalten muss. Künftig könnte es, ebenso wie bestimmte Teile der Motorlager, aus glasfaserverstärktem Polyamid hergestellt werden – jenem Werkstoff, aus dem Airbags bestehen, die somit ein zweites Leben antreten würden.
Mit falschem Leder 40 Prozent weniger CO2
Wir kommen zum Innenraum und öffnen die Fahrertür. Ihr Bügelgriff besteht bei einigen Mercedes-Baureihen aus einem neuartigen Recycling-Kunststoff, für den ausgediente Reifen die Basis bilden. Aus ihnen wird Pyrolyse-Öl erzeugt, das dann mit Biomethan aus landwirtschaftlichen Abfällen kombiniert wird. Im nächsten Schritt werden beide Rohstoffe zu Kunststoff verarbeitet. Und wenn man dann dieses Kunststoff-Rezyklat mit biobasierten Proteinen kombiniert, erhält man ein Material, das in Struktur und Aufbau natürlichem Leder stark ähnelt, aber viel leichter und doppelt so zugfest ist. Im Vergleich zu Echtleder verringert es den CO₂-Fußabdruck um rund 40 Prozent.
Weitere Beispiele aus dem Innenraum gefällig? Seit Jahren schon bestehen bei Mercedes-Benz viele Sitzbezüge aus wiederaufbereitetem Polyethylenterephthalat (PET), konkret: aus alten Plastikflaschen. Dank seiner hohen Recyclingfähigkeit eignet sich PET sehr gut dafür, Primärmaterial zu ersetzen. Aus ihm lassen sich auch Teppichböden, Fußmatten und Türtaschen herstellen; Letztere stehen kurz vor der Serienreife.
Besser Mono-Materialien als untrennbare Mischungen
Für die Türtafeln hält das Programm Tomorrow XX eine neue Verbindungstechnik bereit: Ihre Fügepunkte sind so geformt, dass sie sich am Ende des Autolebens leicht wieder lösen und getrennt wiederverwerten lassen. Und die Instrumententafel könnte man künftig vollständig aus Kunststoffen der Polyolefin-Familie fertigen und Jahre später am Stück sortenrein recyceln. Bauteile aus Mono-Materialien lassen sich generell viel besser wiederverwerten als solche, die aus einem Materialmix bestehen. Deshalb fokussiert sich das Programm stark auf sie. Wie groß das Potenzial ist, zeigt eine Zahl: In einem Mercedes von heute stecken im Schnitt rund 250 Kilo Kunststoff.
CO₂-freier Stahl
Ein weiterer starker Hebel für Dekarbonisierung und Recycling findet sich jedoch in einem anderen Bereich: der Karosserie. Und damit verlassen wir den Innenraum und wenden uns der Welt von Stahl und Aluminium zu. Mercedes-Benz führt einen intensiven Dialog mit führenden Stahlherstellern. Das Ziel dabei: das klassische Hochofen-Verfahren durch eine Methode zu substituieren, bei der Wasserstoff als Reduktionsmittel dient, kombiniert mit sogenannten Elektrolichtbogenöfen, die mit einem hohen Anteil Stahlschrott gefüttert werden. Schon heute vermeidet Mercedes-Benz auf diesem Weg bis zu 65 Prozent Kohlendioxid, und wenn der neue Prozess vollständig mit erneuerbarer Energie läuft, ist der erzeugte Stahl fast ganz CO₂-frei.
Fußabdruck von Alu: 70 Prozent unter europäischem Durchschnitt
Ähnlich wie bei Stahl setzt der Autobauer aus Stuttgart auch bei Aluminium auf neue nachhaltige Konzepte. Beim CLA werden 40 Prozent dieses Metalls schon heute in Elektrolyse-Anlagen mit erneuerbaren Energien hergestellt – das erspart der Umwelt und dem Klima eine halbe Tonne Kohlendioxid pro Auto im Vergleich zum nicht elektrifizierten Vorgängermodell. Mit ihrem strategischen Partner Hydro haben die Stuttgarter Aluminium in die Serienproduktion gebracht, dessen CO2-Footprint 70 Prozent unter dem europäischen Durchschnitt liegt – mit Kurs auf 90 Prozent in den nächsten fünf Jahren.
Natürlich spielt auch hier recyceltes Aluminium eine entscheidende Rolle. Heute macht es in der Seitenwand eines Autos 20 bis 40 Prozent aus, aber da geht noch viel mehr: Im Programm Tomorrow XX kommt dieses große Bauteil auf 86 Prozent Schrottanteil. Bei diesem Thema, dem Metallschrott, hat sich Mercedes-Benz mit der TSR Group GmbH aus Lünen (Westfalen) zusammengetan, einem großen Recycling-Player. Ein neuer, innovativer Rücknahmestandort in Nordwestdeutschland soll vertiefende Erkenntnisse liefern.
Grünstrom und 100 Prozent Recycling für Batterieherstellung
Tief im Bauch der Karosserie liegt bei den E-Modellen die Hochvoltbatterie, sie bietet das größte Potenzial zur Dekarbonisierung. Die Hersteller, von denen Mercedes-Benz die Zellen bezieht, verpflichten sich daher zur Nutzung von Grünstrom in ihren Fabriken. Zudem wird die Trockenbeschichtung der Elektroden forciert – ein großer Fortschritt gegenüber der heute üblichen energieintensiven Trocknung durch Heißluft.
Langfristig arbeitet Mercedes-Benz mit seinen Partnern an Batterien, die bis zu 100 Prozent Rezyklatanteil enthalten. In seiner Batterie-Recyclingfabrik im badischen Kuppenheim erprobt das Unternehmen alle dafür notwendigen Schritte, von der Zerkleinerung der Module bis zur Aufbereitung wichtiger Metalle, letztere primär für die Zelltechnologie.
Pflanzenöl und Altfett statt Magnesium
Es gäbe noch viel zu berichten aus dem Programm Tomorrow XX. Etwa über Kunststoffe, die nicht auf fossilen Rohstoffen wie Erdöl basieren. Stattdessen kommt in vielen Fällen biobasiertes Polypropylen (PP) zum Zug, das aus Pflanzenöl und Altfett hergestellt und mit rezyklierten Glasfasern verstärkt wird. Aus diesem Material bestehen etwa der sogenannte Türmodulträger und der kurz vor der Serienreife stehende Halter für die Mittelkonsole, den Stahleinleger verstärken. Gegenüber dem bisherigen Bauteil, das aus Magnesium-Druckguss besteht, könnte die neue Werkstoffkombination den CO₂-Fußabdruck um mehr als 90 Prozent verringern.
Ein anderes Thema im Programm Tomorrow XX sind Druckgussbauteile, die nach bionischen Prinzipien gestaltet sind – von der Natur zu lernen, heißt in diesem Fall, schlank und leicht zu bauen und bis zu 25 Prozent Material zu sparen. Weitere Projekte sind Bremsbeläge, deren Abfälle in neuen Belägen verwendet werden können, und eine Unterbodenverkleidung, die aus recycelten Kunststoffen von Schrottautos besteht. Und bei alledem gilt ein geschärfter Blick der Biodiversität: Mercedes-Benz hat bei einer Reihe von Bauteilen analysiert, wie sich die Schließung von Kreisläufen dort auswirkt, wo die Stoffe heute herkommen – wie sie Umweltverschmutzung und Flächenverbrauch verringern und Wasserqualität verbessern kann.












