Manche Autos von Hyundai und Kia lassen sich mangels Wegfahrsperre simpel stehlen. Das zog Sammelklagen von Betroffenen nach. Mit ihnen gibt es nun eine Einigung. Die Versicherer klagen jedoch weiter auf Rückzahlung der Entschädigungsleistungen.
Manche Autos von Hyundai und Kia lassen sich mangels Wegfahrsperre simpel stehlen. Das zog Sammelklagen von Betroffenen nach. Mit ihnen gibt es nun eine Einigung. Die Versicherer klagen jedoch weiter auf Rückzahlung der Entschädigungsleistungen.
In der Diebstahlstatistik Deutschlands verhalten sich die Marken Hyundai und Kia bisher unauffällig. In der aktuellsten Auswertung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), die sich auf 2020 bezieht, belegen die Koreaner graue Mittelfeldplätze: Es wurden im besagten Jahr gerade einmal 275 Hyundais und 154 Kias gestohlen. Die Diebstahl-Quote, die die geklauten gegen 1.000 zugelassene Autos aufrechnet, beträgt in beiden Fällen bescheidene 0,2. Zum Vergleich: Spitzenreiter Land Rover kommt auf 1,9.
Anders in den USA: Dort steigen die Diebstähle von Hyundai- und Kia-Modellen in jüngster Vergangenheit auffällig an, sogar bei relativ neuen Autos. Was daran liegt, dass einige Modellreihen der Koreaner, die noch klassisch per Schlüsseldreh und nicht per Knopfdruck gestartet werden, mangels Wegfahrsperre besonders einfach zu knacken sind. Das führt wiederum zu einem anderen Phänomen: Es hat sich beim sozialen Netzwerk TikTok eine "Challenge" (Herausforderung) etabliert, in deren Rahmen die meist jugendlichen Nutzer dazu aufgerufen werden, Hyundai- und Kia-Modelle aufzubrechen und sie zu stehlen.
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Die lokalen Polizeibehörden warnen vor Aufrufen, mit den Autos – oft sehr riskante und gefährliche – Spritztouren zu unternehmen oder sie sogar zu zerstören. Auch die New Yorker Polizei hat bereits derartige Statements veröffentlicht – teils verbunden mit Tipps, wie sich die Besitzerinnen und Besitzer vor dem Diebstahl ihrer Autos schützen können. Dieser beispielhafte Tweet stammt vom 2. Januar 2023:
Seinen Ursprung nahm das Phänomen in Milwaukee. In der Metropole im Bundesstaat Wisconsin wurde die TikTok-Challenge mutmaßlich von einer Gruppe von Jugendlichen, die sich "Kia Boys" nennt, im Sommer 2022 losgetreten. Er ist längst auf andere Regionen in den USA übergeschwappt. In Los Angeles ist die Zahl der Hyundai- und Kia-Diebstähle Medienberichten zufolge um 85 Prozent nach oben geklettert, während es im Raum Chicago sogar einen Anstieg um unglaubliche 936 Prozent gegeben haben soll.
Die Klaumethode, die US-Behörden zufolge bei Autos anderer Marken nicht funktioniere, erscheint derart simpel, dass es kaum zu glauben ist: Die Diebe können die Autos ganz einfach starten, indem sie die Verkleidung hinter dem Lenkrad mit einem Schraubenzieher entfernen und dort ein USB-Kabel an einem bestimmten Schaltkreis anschließen. Normalerweise wird dies von der elektronischen Wegfahrsperre unterbunden, die als Voraussetzung zum Motorstart ein Signal des Schlüssels empfangen muss. Erschwerend kommt hinzu, dass im Internet inzwischen viele Videos kursieren, die den Diebstahl-Trick erklären.
Tatsächlich haben Hyundai und Kia in den USA lange gebraucht, um flächendeckend Wegfahrsperren in ihren Modellen einzuführen. "Unsere Fahrzeuge erfüllen oder übertreffen die 'Federal Motor Vehicle Safety Standards', Wegfahrsperren gehören seit November 2021 bei allen neuen Hyundai-Fahrzeugen zur Standardausrüstung", heißt es in einer Stellungnahme von Hyundai Motor America. Kia America weist darauf hin, dass alle in den USA vertriebenen Fahrzeuge der Marke seit dem Modelljahr 2022 mit einer Wegfahrsperre ausgerüstet seien. Allerdings werden vor allem Autos früherer Modelljahrgänge gestohlen. Einen Rückruf haben bisher weder Hyundai und Kia noch die US-Verkehrssicherheitsbehörde NHTSA veranlasst.
Immerhin bieten Hyundai und Kia seit Frühjahr 2023 – und damit fast ein halbes Jahr nach Start der Diebstahlserie – eine technische Lösung als Gegenmittel an. Dabei handelt es sich um ein kostenloses Anti-Diebstahl-Software-Upgrade, das bei Vertragshändlern der Marke innerhalb von einer Stunde aufgespielt wird und sich auf mehrere Steuermodule im Fahrzeug auswirkt. Beim Verriegeln des Autos per Fernbedienung wird eine "Ignition Kill"-Funktion aktiviert, die dafür sorgt, dass es sich nur dann starten lässt, wenn es ebenfalls per Fernbedienung wieder aufgesperrt wird. Öffnen und Schließen per Schlüsseldreh ist damit nicht mehr möglich. Hyundai verspricht jedoch, dass sich die Klaumethode dadurch nicht mehr anwenden lässt. Aufkleber auf den Fenstern sollen zudem potenzielle Diebe auf die Verbesserung hinweisen.
Die koreanischen Schwestermarken wollen insgesamt etwa neun Millionen Fahrzeuge mit der Software-Aktualisierung vor Diebstahl schützen. Zunächst waren mehr als eine Million Exemplare der besonders häufig gestohlenen Hyundai-Baureihen Elantra (Modelljahre 2017 bis 2020), Sonata (2015 bis 2019) und Venue (2020/21) dran. Ab Juni 2023 werden die Besitzerinnen und Besitzer von weiteren Baureihen oder anderer Modelljahre versorgt. Bei einigen Fahrzeugen der Modelljahre 2011 und 2022 ohne Wegfahrsperre kann das Software-Upgrade jedoch nicht durchgeführt werden. Deren Besitzerinnen und Besitzer müssen sich vorerst weiterhin mit Lenkradsperren oder Parkkrallen behelfen, deren Kauf die Autohersteller jedoch finanziell unterstützen.
Bis Hyundai und Kia dem Problem auf offiziellem Wege begegneten, musste eine im Herbst 2022 eingeführte Zwischenlösung herhalten: In den Vertragswerkstätten konnten Wegfahrsperren der Firma Compustar nachgerüstet werden. Der Haken an der Sache: Weil es keinen offiziellen Rückruf gab, mussten die Kundinnen und Kunden dies selbst bezahlen. US-Medien zitieren Anwälte einer Kanzlei, die in dieser Sache Eigentümerinnen und Eigentümer fraglicher Autos vertritt. Die Juristen nennen Gesamtkosten von bis zu 750 Dollar (aktuell umgerechnet etwa 690 Euro), da neben den Teile- auch die Einbaukosten von der Kundschaft getragen werden müssten. Da kommt angesichts von etwa zweieinhalb Arbeitsstunden einiges zusammen.
Einen ersten Erfolg erreichten Kundinnen und Kunden, die sich den Sammelklagen angeschlossen haben, Mitte Mai 2023. Die US-Vertretungen von Hyundai und Kia gaben bekannt, Geschädigte per Vergleich, den noch ein Gericht absegnen muss, mit insgesamt etwa 200 Millionen Dollar (aktuell umgerechnet etwa 185 Millionen Euro) zu entschädigen. Die Vereinbarung sieht einerseits eine Barentschädigung bei durch Diebstahl verursachten Fahrzeugverlusten oder Schäden vor, die nicht von der Versicherung gedeckt sind. Zudem erstatten die Hersteller Selbstbeteiligungen, erhöhte Versicherungsprämien und andere diebstahlbedingte Schäden. Hyundai Motor America und Kia America sehen diese Rechtsstreitigkeiten damit beigelegt.
Trotzdem könnte es für die Koreaner deutlich teurer werden, denn sie kämpfen noch an einer weiteren juristischen Front. Bereits im März 2023 hatten verschiedene US-Versicherer gemeinschaftlich im kalifornischen Orange County eine Klage gegen die koreanischen Autobauer eingereicht. Sie fordern von Hyundai und Kia eine Rückerstattung der bereits geleisteten Entschädigungszahlen in Höhe von rund 190 Millionen Dollar (knapp 176 Millionen Euro). Insgesamt könnte diese Summe aber noch auf ungefähr 600 Millionen Dollar (fast 555 Millionen Euro) ansteigen, wenn sich weitere Versicherer der Klage anschließen.
Neben Privatpersonen und Versicherungen hatten sich zudem Milwaukee und andere US-Städte aufgrund des zögerlichen Handelns der Hersteller Klagen gegen Hyundai und Kia vorbehalten. Hinzu kommt eine weitere problematische Nebenerscheinung: Manche Versicherungen weigern sich, gefährdete Modelle zu versichern. Wer bereits ein solches Auto besitzt und versichert hat, musste mit empfindlichen Teuerungsraten rechnen. Derartiges wird beispielsweise aus St. Louis im US-Bundesstaat Missouri berichtet, wo die Zahl der Diebstähle von Hyundais und Kias um unfassbare 1.450 Prozent gestiegen ist. Bewohnerinnen und Bewohner anderer Städte seien von diesem Problem jedoch ebenfalls betroffen.
Müssen nun auch Besitzerinnen und Besitzer von Hyundai- und Kia-Modellen in Deutschland fürchten, dass ihre Fahrzeuge potenziell einfache Beute für Autodiebe sind? Hyundai Deutschland beschwichtigt: "In erster Linie scheint das Modelle in den USA zu betreffen, die in der Regel in Ausstattungen und Verkaufsvarianten stark von europäischen Modellen abweichen oder in Europa gar nicht vertrieben werden", heißt es auf auto-motor-und-sport.de-Anfrage. Auch die Schwestermarke sieht hierzulande kein Problem für ihre Kundinnen und Kunden: "Seit 1. Januar 1998 müssen alle neu zugelassenen Pkw in Deutschland mit einer elektronischen Wegfahrsperre ausgerüstet sein (§ 38aStVZO), die die Art von unbefugtem Zugang, auf die in der 'Challenge' hingewiesen wird, verhindert", sagt eine Sprecherin. Kia prüfe zudem fortwährend neue Möglichkeiten, die Sicherheit der Fahrzeuge zu verbessern.
In Deutschland verkaufte Autos scheinen tatsächlich besser gegen Diebstahl geschützt zu sein: Zu uns hat es die TikTok-Challenge bisher nicht geschafft. Trotzdem sollten sich die deutschen Vertretungen der koreanischen Hersteller noch einmal genauer die eingangs erwähnte Autoklau-Statistik des GDV anschauen: Demnach verzeichneten Hyundai- (plus 52,8 Prozent) und Kia-Modelle (plus 63,8 Prozent) 2020 im Vergleich zum vorangegangenen Jahr die größten Zuwächse unter allen angegeben Marken; sie stiegen in der Gunst der Autodiebe also enorm. Der Kia Stinger lag auf 1.000 Autos gerechnet sogar auf Platz drei der meistgestohlenen Modelle (Quote: 6,7); auch der Hyundai Santa Fe (3,4; Platz elf) sowie der Kia Sorento (2,7; Rang 16) lagen klar über dem Durchschnitt.
Sind die starken Zuwächse bei den jüngsten Diebstahlzahlen des GDV bei Hyundai- und Kia-Modellen Zufall, eine statistische Anomalie oder doch die Konsequenz eines mangelhaften Diebstahlschutzes trotz vorgeschriebener Wegfahrsperre? Das muss die Zukunft zeigen. Wir werden weiterverfolgen, wie sich hierzulande die Autoklau-Statistik in Bezug auf die Baureihen der beiden koreanischen Hersteller entwickelt. Im Vergleich zu den US-Modellen scheinen sie jedoch deutlich besser gegen Entwendung geschützt zu sein. In Deutschland ist die TikTok-Challenge bislang kein Thema. Hoffentlich bleibt das so.